Machen Grenzen Pferde glücklich?

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Bernd Paschel auf Chiko © Foto: Heinz Welz

Berlin, Deutschland (Salon Philosophique). Pferde lieben die Weite – wir sperren sie in die Box. Sie sind Fluchttiere – wir zügeln sie mit dem Gebiss.

Was Grenzen für das Pferd bedeuten

Ob jemand mit seinem Pferd schmust oder eher Distanz im Umgang pflegt; ob und wie ein Reiter sein Pferd putzt, ihm das Zaumzeug überstreift und ihm das Gebiss ins Maul schiebt, den Sattel auflegt, den Gurt festzurrt, seine Schenkel anlegt oder am Zügel zieht; die weiche oder die harte Hand – alles hat mit Raum nehmen oder Raum geben zu tun und bedeutet: Grenzen zu setzen oder zu öffnen.

Der Mensch begrenzt das Pferd – fast immer

Von Natur aus ist das Fluchttier Pferd auf Grenzenlosigkeit angelegt, denn nur diese sichert sein Überleben. Jede Begegnung mit Menschen, jegliches Eingesperrtsein auf Weiden, in Paddocks oder Boxen, jedes Geritten- oder Angespanntwerden bedeutet für das Pferd Begrenzung, und somit von Natur aus potenzielle Lebensgefahr.
Denn Zäune und Boxenwände sind für Pferde ebenso unnatürliche Grenzen wie Reiterschenkel, die rechts und links an seinen Leib drücken, Lederriemen, die seinen Kopf umspannen oder Eisenstangen, die sein Maul ausfüllen.

Die Grenze markiert jenen Bereich, bis zu dem Mensch oder Pferd gehen kann, egal ob körperlich, geistig oder emotional. Zäune und Wände beschreiben für Pferde Grenzen und Räume, innerhalb derer sie sich bewegen können. je größer der Raum, desto ferner die Grenzen, desto mehr Bewegung ist möglich.
Für Pferde ist dies höchst bedeutsam. Denn sie sind Beutetiere. Das Thema Raum und Grenzen besitzt für sie von Natur aus eine immens große Bedeutung, möglicherweise die allergrößte.

Raum ist überlebenswichtig

Seit die Spezies vor rund 4000 Jahren in Babylonien erstmals domestiziert wurde, hat sie sich als Haus-pferd zwar an räumliche Einengung gewöhnt und die natürliche Furcht vor unnatürlichen Grenzen überwunden.
Dennoch macht manch leidgeplagter Pferde-Besitzer hier bisweilen andere Erfahrungen: Wenn sein Pferd aus der Weide ausbricht, in Box oder Paddock randaliert oder sich nicht verladen lässt. Gehen wir einen Schritt weiter: Jedes Anreiten und Einfahren, bereits das erste Aufhalftern oder Satteln zeigt, dass Pferde – trotz Domestikation – ihre instinktive Abwehr gegen zu starke Einengung beibehalten haben.

An Einengung gewöhnt

Denn Zaumzeug, Sättel, Gebisse, Gerten und Schenkel haben etwas mit Zähnen und Wänden gemeinsam: Auch sie beschreiben Grenzen und beschneiden Räume besonders stark. Somit gefährden sie das natürliche Überlebensprinzip von Pferden noch einschneidender. Kein Wunder dass alle Pferde grundsätzlich zunächst die Tendenz haben, vor ihnen zu fliehen oder sich dagegen zu wehren. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Auch unsere Hände repräsentieren Grenzen. Streichelnde Hände sind die feinsten physischen Grenzen. Schlagende Hände können die gröbsten Grenzpfeiler sein und zudem die schmerzhaftesten Werkzeuge einsetzen: Gerten, Peitschen und Gebisse.

Es liegt in unserer Hand

Dazwischen spielt sich viel ab. Warum bleiben manche Pferde beim Putzen nicht stehen, legen die Ohren an oder schnappen? Was der Mensch mit Striegel und Bürste für notwendigen Pflegeaufwand hält, empfindet das Pferd möglicherweise als Vorstufe zur Tötung. Warum lassen sich manche Pferde nicht einmal streicheln? Weil sie menschliche Hände immer nur als fordernd, doch niemals als gebend kennen gelernt haben.
Paradox: Grenzenlosigkeit statt Grenzen

Pferde brauchen von Natur aus also Grenzenlosigkeit zum Überleben. Als Haustiere und Partner des Menschen müssen sie jedoch lernen, Grenzen zu respektieren – für Pferde eine paradoxe, weil unnatürliche Forderung. Für uns Menschen ist sie im Umgang mit Pferden jedoch überlebenswichtig.
• Daraus folgt erstens: Mensch und Pferd passen von Natur aus nicht zusammen
• Zweitens: Um mit Pferden dennoch zu kooperieren, müssen wir in ihre Natur eingreifen und müssen sie begrenzen.
Die Kunst besteht allerdings darin, dies auf natürliche Art so zu machen, dass weder ihr Flucht- noch ihr Abwehrinstinkt aktiviert werden.

Was heißt Erziehung?

All das nennt man Erziehung. Erst nach der Erziehung kommt die Ausbildung. Eine gute Erziehung erleichtert eine gute Ausbildung. Gute Erziehung eines Pferdes zeigt sich darin, dass es im Umgang mit Menschen jederzeit seine Bewegungen kontrollieren lässt hinsichtlich der jeweils gewünschten
• Gangart,
• Richtung und
• Dauer der Bewegung,
• und dass es sich der Forderung durch den Menschen weder durch Flucht noch durch Widerstand entzieht.
Wenn Ihr Pferd Ihnen das Leben schwer macht, hat dies immer mit einem oder mehreren dieser Punkte zu tun.

Der Weg zu Selbstständigkeit

„Erziehung”, so die Definition, ist der „geplagte Umgang Erwachsener mit Kindern und Jugendlichen mit dem Ziel, die Heranwachsenden zu Selbstständigkeit und Verantwortung zu führen.” Zur Erziehung – gleich, ob von Menschen oder Pferden – gehören also ein Plan sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich auch daran zu halten. An all dem fehlt es vielen Menschen im Umgang mit ihren Pferden.

Das Ziel: Selbstständigkeit und Verantwortung

Auch bei der Erziehung von Pferden geht es um Selbstständigkeit und Verantwortung. Ziel ist es, das Pferd daran zu gewöhnen, dass es im Umgang mit Menschen – ob beim Führen, Fahren oder Reiten – von sich aus und ohne Zwang die geforderte Gangart und die Richtung beibehält, und zwar so lange wie der Mensch es will. Pferde zu erziehen, heißt im Grunde nichts anderes als mit Räumen und Grenzen richtig umzugehen: keine Angst davor zu haben, Raum zu gewähren und Raum zu nehmen. Und die Fähigkeit
unterscheiden zu können, wann der richtige Zeitpunkt für das eine oder für das andere ist.

Notwendig: Gefühl und Selbstkontrolle

Und dazu braucht der Erzieher vor allem Gefühl und Selbstkontrolle. Ohne dies wird er entweder ständig Räume beschneiden, wo er eigentlich Räume gewähren müsste, oder er wird Räume gewähren, die beschnitten werden müssten.
Gute Erziehung bedeutet, das Pferd so an Grenzen zu gewöhnen, dass es sich innerhalb dieser Grenzen so bewegt, wie der Mensch es wünscht – nicht schneller und nicht langsamer, nicht weiter und nicht kürzer und genau in die vorgegebene Richtung.

Im Round Pen Gefühl füreinander entwickeln

Bewährte Hilfsmittel, um Pferde (und sich selbst im Umgang mit Ihnen) zu erziehen, um Gefühl und Selbstkontrolle zu entwickeln, sind ein Round Pen, das vier-Meter-Arbeitsseil mit (am besten) einem Knotenhalfter sowie Hände und Augen des Menschen.
Der Round Pen ist anfangs die denkbar größte (und beste) Begrenzung, um mit dem Pferd wirkungsvoll zu kommunizieren.

Denn die Kommunikation im Round Pen – richtig angewendet – zielt (neben vielem anderen) darauf ab.
• das Fluchtbedürfnis des Pferdes in einen geordneten Bewegungsablauf umzulenken: hin zum Menschen und hinter ihm her
• Bei Mensch und Pferd das richtige Gefühl füreinander zu etablieren
Entscheidend ist der richtige Umgang mit den Räumen: Gute Round Pen-Arbeit gewährt dem Pferd jeweils so viel Raum, dass ihm der Mut zur Bewegung bleibt, die Motivation also ungebrochen ist; und sie begrenzt den Raum nur so weit, dass jeglicher Übermut dort für das Pferd zu der unangenehmen und unvergesslichen Lernerfahrung wird: „Ich laufe zwar davon, aber ich komme doch nicht weit.”

Raum geben statt nehmen

Wenn ich mit Pferden im Round Pen arbeite, steht das Begrenzen allerdings hinten an. Viel wichtiger ist das Prinzip „Raum gewähren”: Das Pferd soll lernen, folgsam zu sein, weil es Raum bekommt und nicht – wie üblich – dadurch dass ihm Raum (etwa durch Zügel oder Schenkel) genommen wird.

Ein Beispiel: Um ein Pferd anzuhalten, tritt man ihm gewöhnlich in den Weg und nimmt ihm dadurch Raum. Wenn das nicht ausreicht, verengt man diesen noch mehr, bis hin zur Berührung, etwa mit einer Gerte. Das funktioniert und ist erlaubt. Aufs Reiten übertragen würde dies bedeuten, die Zügel so lange anzunehmen, bis das Pferd steht.
Mit wenig Energie zum Gewünschten

Wir bieten dem Pferd im Round Pen das Gegenteil an: Wir gewähren ihm so lange Raum, bis es stehen bleibt. Dadurch, dass wir den Raum vergrößern, bedienen wir uns seines eigenen, natürlichen Sicherheitskonzepts:

Raum zu haben bedeutet Sicherheit für das Pferd. Der Effekt ist außerordentlich. Und nebenbei lernen Mensch und Pferd gemeinsam, immer nur so viel Energie aufzuwenden wie nötig. Der energiesparende Umgang wird für beide auf Dauer zur guten Gewohnheit.

Erziehung mit Halfter und Seil

Auf der Basis dieser guten Gewohnheiten können wir zum nächsten Schritt übergehen: der Erziehung mit Seil und Halfter. Ist der Round Pen ein Ort des indirekten Gefühls, setzen Halfter und Führseil die Grenzen enger: in der Kommunikation mit direktem Gefühl, wie dies fürs Reiten und Fahren und als Basis jeglichen Umgangs mit dem Pferd vom Boden aus notwendig ist.
Dieser Erziehungsschritt, der ohne die richtige Vorbereitung bei Mensch und Pferd gleichermaßen Flucht- oder Abwehrreflexe freisetzen kann, wird durch die vorherigen Übungen im Round Pen extrem erleichtert. So ist es dann keinerlei Problem mehr, ein Pferd selbst innerhalb enger Grenzen mittels Halfter und Seil zu Leichtigkeit, Nachgiebigkeit und Bewegung zu animieren.

Was leisten die Hände?

Außer Round Pen, Seil und Halfter sind vor allem unsere Hände die wichtigsten Hilfsmittel, um das Pferd an räumliche Begrenzung zu gewöhnen. Dabei steht das Streicheln an oberster Stelle: Es knüpft Kontakt und repräsentiert die sanfteste Form des direkten Gefühls. Es ist zugleich die feinste Weise, jemanden zu begrenzen und ihn zugleich für uns einzunehmen: Nennen Sie es ruhig Manipulation, ein lateinisches Wort, das übersetzt heißt „mit der Hand bewegen”.
Kein Wunder also: Streicheln wirkt Wunder. Streicheln ist der Vorläufer von Schenkel und Zügel. Es bereitet in feinster Form auf die Manipulation durch Schenkel und Zügel vor. Es nimmt dem Pferd überall am Körper auf angenehme Weise Raum.
Und es gewöhnt es auf angenehmste Weise daran. So ist die Raumnahme durch andere Hilfsmittel kaum noch ein Problem.

Raubtier, Fluchttier oder Autorität?

Wir Menschen haben – im Gegensatz zum Tier – die Wahl:
• wir können als „Raubtiere” auftreten, dann sind wir (aus Überlebensangst) hart, bisweilen auch verletzend;
• als „Fluchttiere” sind wir (aus der gleichen Überlebensangst) entscheidungsschwach und versuchen, Konflikte zu vermeiden. Beides führt zu Schaden.
• Die Autorität jedoch (hier verstanden als das Mittelding zwischen Raubtier und Fluchttier) setzt auf Grenze statt auf Zwang. Sie lässt ihrem Mitarbeiter oder Schüler Raum zur Entwicklung, sie fühlt und beobachtet genau.
Wann immer möglich, lässt sie die Zügel locker. Wenn nötig kann sie sie aber auch fest annehmen, um sie sobald wie möglich wieder zu lösen. Dieses Autoritätskonzept motiviert Pferde zu Bewegung, und es nimmt ihnen den Übermut. Es macht Mensch und Pferd feinfühlig füreinander. Und es verhindert, dass beide sich gegenseitig überfordern.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag erschienen in der Zeitschrift „Freizeit im Sattel“, September 2003, als Erstveröffentlichung und wurde für WELTEXPRESS im September 2016 überarbeitet und dort am 10.10.2016 veröffentlicht.

Weiterführende Literatur:

Die Grundlagen unserer hippo-logischen Pädagogik

Mehr Informationen unter unter: http://www.heinzwelz-akademie.de/pferde-paedagogik.html