Digitale Filterblasen – Serie: Zum „Leviathan“-Sonderband 37 „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?“ (Teil 1/3)

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"Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Sonderband Leviathan" herausgegeben von Dr. Martin Seeliger und Dr. Sebastian Sevignani. © Nomos

Berlin, Deutschland (Salon Philosophique). Buchtitel sollen Neugierde wecken und zur Lektüre anregen. Der 2021 publizierte Sonderband 37 der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft „Leviathan“ macht mit einem ungewöhnlichen Titel auf: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?“. Also weder mit einer festen These, noch mit einer unmissverständlichen Frage. So wird der Eindruck erweckt, dass dem Thema mit Skepsis begegnet werden soll. Dabei ziehen sowohl die Herausgeber (Martin Seeliger und Sebastian Sevignani) als auch die Autoren des insgesamt 21 Essays enthaltenden 500-Seiten-Wälzers das eindeutige Fazit eines erneuten Strukturwandels.

Der Titel bezieht sich auf Jürgen Habermas‘ vor mittlerweile 60 Jahren publizierte Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Die Autoren des Bandes wollen diesen Habermas-Begriff auf seine Aktualität in gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften hin überprüfen.

Habermas spürte der Genese und dem Verfall der bürgerlichen Öffentlichkeit nach. Seine Studie aus dem Jahr 1962 verquickt eine „politisch fungierende Öffentlichkeit“ eng mit staatlicher und gesellschaftlicher Demokratie. Indem die sich als frei und gleich verstehenden Privatbürger versammelten, wurde eine elementare Voraussetzung für demokratische Prozesse geschaffen: die der autonome Willens- und Meinungsbildung. Ohne eine derartige, frei zugängliche Öffentlichkeit ist keine Demokratie möglich. Dieser Strukturwandel vollzog sich seit dem 18. Jahrhundert, unterstützt durch kritische Printmedien als Plattform für die Bekundung der öffentlichen Meinung.

Die Fragmentierung der breiten Öffentlichkeit vollzog sich, Habermas zufolge, im Wandel der kritischen Medien zu Werbe- und Geschäftsmodellen. Habermas spricht von einer „Refeudalisierung“ der Öffentlichkeit, die mit einem kulturkonsumierenden, apolitischen Publikum einher geht. Später differenziert Habermas seinen Gesellschaftsbegriff weiter aus. Im Vordergrund steht nun ein „Diskursbegriff der Demokratie“. Diskursive Meinungs- und Willensbildung prägen eine politische Öffentlichkeit von Staatsbürgern.

Die Herausgeber und die Mehrheit der Autoren dieses Sonderbandes haben die unterschiedlichen Habermas’schen Gesellschaftskonzepte zum Gegenstand ihrer Erörterungen gemacht. Roter Faden ist die Annahme eines neuen aktuellen Strukturwandels. Wobei die unterschiedlichen Konzepte des „frühen“ und des „mittleren“ Habermas nicht immer trennscharf thematisiert werden.

Im Einleitungsessay der Herausgeber Seeliger und Sevignani wird der aktuelle Strukturwandel als ein mehrdimensionaler Prozess auf den Ebenen der „Kommodifizierung“, der „Globalisierung und Differenzierung“ sowie der „Digitalisierung“ beschrieben. Das Ende des Bandes ist Jürgen Habermas vorbehalten, der seine neue Sicht auf die Problematik darlegt.

Die Autoren scheinen nur grobe Vorgaben zum Thema erhalten zu haben. Nur wenige Texte nehmen Bezug aufeinander. Zwar sind sich die Autoren einig darin, dass ein Strukturwandel zu konstatieren sei. Aber dessen Einordnung fällt nicht eindeutig aus, vor allem, was den medialen Digitalisierungsprozess und dessen Kommerzialisierung angeht. Auch durch die Fragmentierung im Netz, die Entstehung von Echokammern oder Filterblasen ist die politische Öffentlichkeit gefährdet.

Jürgen Habermas selbst sieht in seinem den Band abschließenden Essay nicht nur schwarz, sondern verweist auf die zuvor nicht gekannte Möglichkeiten digitalisierter sozialer Medien, die eine globale Vernetzung beliebiger Personen unbeschränkt gestatten. Eine Gefahr für die politische Öffentlichkeit sieht er jedoch in den „algorithmengesteuerten Plattformen“, deren Triebkraft das Erzielen von Gewinnen ist. Dass jedoch ein neuerlicher Strukturwandel vorliegt, lässt sich den Ausführungen des Philosophen nicht eindeutig entnehmen. An der kapitalistischen Wirtschaftsform hat sich ja strukturell nichts geändert.

Die Umwälzung der Kommunikationstechnologien steht nicht per se ein für einen erneuten Strukturwandel. Es könnte jedoch sein, dass, bedingt durch die ausgiebige Nutzung sozialer Medien, sich die Wahrnehmung einer Trennung zwischen »öffentlich« und »privat« verblasst. Habermas‘ Fazit lautet: „Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken … kann“.

Bibliographische Angaben

Dr. Martin Seeliger und Dr. Sebastian Sevignani, „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?, Sonderband 37 der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaften Leviathan, 498 Seiten, Verlag: Nomos, Baden Baden, 2021, ISBN: 978-3-7489-1218-7, Preis: 99 Euro