Berlin, Deutschland (Salon Philosophique). Im Kontext der aktuellen Debatte um rituelle Beschneidungen in Deutschland zeigt das jüdische Museum in Berlin nach dem Kölner Gerichturteil die Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“. Neben religiösen und kulturgeschichtlichen Aspekten der Beschneidung thematisiert die Ausstellung historische und aktuelle antisemitische und islamophobe Haltungen. Außergewöhnliche Objekte aus internationalen Sammlungen und zeitgenössische Accessoires stehen Filmausschnitten, aktuellen Interviews und Installationen gegenüber, die das kontrovers diskutierte Thema kommentieren.
Der Begleitband zur Ausstellung bildet die gezeigten Objekte ab und vertieft das Thema durch weiterführende Essays und literarische Texte. Die Autorinnen und Autoren betrachten die Beschneidung aus unterschiedlichen Blickwinkeln, gehen auf ihre Bedeutung in Islam und Judentum ein und analysieren nicht zuletzt die Debatte nach der Verkündung des Kölner Beschneidungsurteils im Sommer 2012. Es werden beispielsweise Skulpturen, Drucke, reich bestickte Beschneidungsgewänder, Holz- und Kupferstiche, Gemälde, Photographien und Beschneidungsbestecke gezeigt, die einen hervorragenden Einblick in die jüdische Kultur und rund um die Beschneidung ermöglichen.
Gerhard Langer gibt in seinem Essay“ Zu einigen wichtigen Aspekten der Beschneidung in der rabbinischen Tradition“ einen guten Einblick. Vom Tod ins Leben, von Moses und Abraham, vom Menschenopfer zur Beschneidung und als Kämpfer gegen den Götzendienst, die Beschneidung als Opfer, die Abgrenzung und Einbeziehung gleichzeitig bedeutet. Alfred Bodenheimer stellt in seinem Essay „Ich glaube nicht an die Gutmenschen“ die deutsche Beschneidungsdebatte aus jüdischer Perspektive dar. Er stellt fest, dass Juden durch diese schockiert und verletzt sind und den latenten Antisemitismus empor keimen sehen, während die Muslime es eher als eine unerfreuliche Fortsetzung der Sarrazin-Debatte sahen. llhan Itkilic stellt in seinem Essay „Knabenbeschneidung und ihre Bedeutung für die muslimische Religionspraxis und Identitätsbildung“ die Beschneidung aus muslimischer Sicht, und Thomas Lentes in seinem Aufsatz „der hermeneutische Schnitt, die Beschneidung im Christentum“ aus christlicher Sicht dar. Sander L. Gilman schreibt in seinem Essay“ Gesundheit, Krankheit und Glaube. Der Streit um die Beschneidung“ über die Beschneidung im Spannungsfeld zwischen Religion und Wissenschaft, in der Medizin das Für und Wider und die ideologischer Haltungen, und kommt zu dem Ergebnis, dass letztlich nichts die Wissenschaft, sondern die kulturelle Akzeptanz darüber entscheidet, welche Haltung vorherrscht. 70% der Amerikaner sind aus ihrer Meinung nach gesundheitlichen Gründen beschnitten.
Der Psychoanalytiker Yigal Blumenberg schreibt in seinem Essay über „Psychoanalytische Überlegungen zur Beschneidung in der jüdischen Tradition“. Er meint in Anlehnung an den Philosophen und Rabbiner Marc-Alain Quaknin, die Beschneidung nimmt vom Menschen einen Teil, damit er die Erfahrung eines Mangels macht. Das soll ihn dazu bringen, sich ständig zu entwerfen und neu zu erfinden. Gerade durch die Anerkennung seiner Unvollkommenheit, wird der Mensch also dazu getrieben, an der Vervollkommnung der Schöpfung teilzunehmen.
Neben diesen größeren Essay sind noch kürzere unter anderem von Kafka über die veraltete, historische und selbst erlebte Beschneidung und ein “Selbstporträt“ von Jakov Lind „alles wäre in Butter, hätte er nur ein bisschen mehr Haut“ zu lesen und nachzuvollziehen.
Das Ausrufungszeichen hinter „Haut ab!“ lässt Assoziationen zum aggressiven, imperativen Charakter der Beschneidung zu, etwa in dem Sinne “ Du sollst es auch nicht besser haben als ich!“ – traumatisierte Eltern wollen schließlich nicht nur das Beste für ihre Kinder, sondern aus Neid und Aggression etwas Schlechtes – oder traurige Assoziationen über den Verlust der Vorhaut, ein kleines Stück der Männlichkeit.
Die Juden waren in ihrer Jahrtausende alten Geschichte immer, neben friedlichen Zeiten, Verfolgungen und einer Ghettoisierung ausgesetzt. Das hat traumatische und wiederum traumatisierende Folgen. Aber sie haben immer ihre Identität gewahrt und sind nicht in den jeweiligen Umgebungsbevölkerungen aufgegangen. Dazu verhalf ihnen eine strenge Tradition der Abgrenzung, d.h. auch Gettoisierung, unter anderem der Beschneidung. Das setzt sie wiederum Aggressionen und Entwertungen aus.
Gegen Traumatisierung muss ein Gegenbild der Unverletzlichkeit und Vollkommenheit geschaffen werden, dass sie mit ihrer Tradition, Religion und ihrem Zusammenhalt gewährleisten nach dem Motto „gemeinsam sind wir stark“. Die Erhebung zur Religion macht sie vermehrt im Sinne einer Unhinterfragbarkeit unverletzlich. Schließlich neigen sich ungeliebt Fühlende vermehrt zur Religiosität, um bei einem Gott Schutz und Trost zu finden, ein Leben in einer Illusion.
Das aber schafft Aggressionen, Neid und Missgunst in der Umgebungsbevölkerung, macht sie zu Projektionsfläche eigener Unzulänglichkeiten und Defizite, wie die jüngste Geschichte des vernichtenden Holocaust gezeigt hat. Geschichtliche Erfahrung graben sich stark in das Weltbild ein und müssen immer wieder in der Zukunft gefürchtet werden. Die Erfahrung größerer Bevölkerungsgruppen schlagen sich wiederum in den Kleingruppen und im Einzelnen nieder. Die Kleingruppe, die Familie und das Individuum sind sozusagen ein Spiegel der Großgruppe. Es trifft ja auch jeden einzelnen, und jeder einzelne muss sich unverletzlich in religiöser Überhöhung wappnen. Je mehr er grausame Erfahrung gemacht hat, desto mehr muss er ein Gegenbild dagegen setzen. In einer Art tragischem Teufelskreis zwischen Projektionsfläche der Aggressionen und dem Zusammenhalt in ehrwürdiger Tradition bewahren die Juden ihren Erhalt, Zusammenschluss und ihre Volksidentität.
Jeder Mensch wird in ein Umfeld hinein geboren, wo er durch den Glauben, die Regeln, die Gebote und Verbote sozusagen symbolisch beschnitten wird. Jedes Volk hat darin seine eigene Kultur mit vielen Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Hauptüberträgerin ist als in der frühen Kindheit Hauptversorgende die Mutter. Es kommt nur darauf an, ob das Umfeld hinreichend dem Kind Geborgenheit und Förderung zur Selbstständigkeit gewährt, in dem es reifen kann. Im Falle von Traumatisierungen durch Kriege, Verfolgungen, Vertreibungen, schwere Krankheiten und Gewalt ist dies nicht mehr gewährt und schlägt sich in einer traumatisierten, zerbrochenen und verletzlichen Identität nieder. Dann müssen die Eltern ihre Kinder beschneiden, diese wiederum ihre Kinder strengen Geboten und Verboten unter Strafandrohungen und Strafen aussetzen, die diese wiederum verinnerlichen.
Zur Tradition der Juden gehört über die seelische Beschneidung hinaus, den Jungen nach 8 Tagen körperlich zu beschneiden, so dass er nicht mitsprechen und -entscheiden kann. Das Elternrecht hat also Priorität gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht. Die Idee ist, gerade durch den körperlichen Mangel kreativ zu werden, Vollkommenheit durch Unvollkommenheit. Als wenn er das nicht ohne das könnte, falls er nicht allzu sehr seelisch beschnitten ist! Wenn der erwachsene Sohn sein Eltern fragen würde, „habt ihr mich um euretwillen oder um meinetwillen beschneiden lassen? Wenn ich gefragt worden wäre, hätte mich nicht beschneiden lassen“. Wenn der Sohn schon so etwas sagt, geraten die Eltern in Erklärungsnot, denn sie haben ihn um ihretwillen beschnitten, ohne den Jungen zu befragen. Ein orthodoxer Jude käme erst gar nicht auf die Idee, Eltern wie Söhne, so sehr sind sie in der traditionellen Identität verfangen. Eine körperliche Beschneidung geht im Falle der Orthodoxie mit einer seelischen einher. Aber Kreativität kann man dem Judentum nicht absprechen. Das schafft ja gerade Neid im Umfeld. Die Kindheit des Volkes ist also halbwegs gelungen, vielleicht, einiges spricht dafür, wegen ihrer Tradition, die den Zusammenhalt gewährleistet und sie gegen Verfolgungen wappnet.
In der Geschichte werden 2 Phasen erwähnt, wo aufgeklärte Juden von der Beschneidung Abstand nahmen, einmal im Altertum, wo die hellenistische Kultur der makellosen Schönheit, und schön ist ein unbeschnittener Körper, den Zeitgeist bestimmte, und im 19. Jahrhundert, wo säkularisierte Juden sich nicht mehr beschneiden ließen. Dieser Umstand wird im Begleitband als Anpassung an die Bevölkerungsmehrheit dargestellt und nicht als autonome Entscheidung. Nach der grausamen Erfahrung des Holocaust kehrten sie zu der alten Praxis zurück. Das spricht für die Traumatheorie der Beschneidung, nicht dass die Beschneidung selbst allzu traumatisch ist. Jetzt, da sie einen eigenen Staat haben und sich nicht mehr gegen eine Bevölkerungsmehrheit verwahren müssen, verhalten sie sich wie alle traumatisierten Staaten.
Bei den Moslems sehe ich die Hintergründe, die zur Beschneidung bis zur Pubertät führen, anders.
Im Zentrum sehe ich dabei die Unterdrückung bzw. die Nichtanerkennung der Frau. Die Mutter hat aber die meiste Macht in der Familie und ihr Verhalten ist prägend. Neben ihrem Stolz auf ihren Sohn ist sie in ihrer Ambivalenz infolge der Unterdrückung auch neidisch und aggressiv gegenüber Männern. Deswegen wird der Sohn beschnitten. Das ist so in das Kulturgut eingegangen, dass es unhinterfragbar ist.
Aus Achtung gegenüber der jüdischen Kultur und Tradition und, um nicht in den Geruch des Antisemitismus bei latent vorhandenem Antisemitismus zu geraten, hat die Bundesregierung im Eilverfahren entgegen dem Gerichturteil die Bescheidung unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen.
Der Begleitband ist lesenswert und die Ausstellung sehenswert, wenn er auch von der jüdische Perspektive geprägt ist.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Bernd Holstiege wurde am 30.11.2014 im WELTEXPRESS erstveröffentlicht.