Über das Buch „Scham und der böse Blick, Verstehen der negativen therapeutischen Reaktion“ von Léon Wurmser

0
1296
Léon Wurmser, Scham und der böse Blick © Kohlhammer

Frankfurt am Main, Deutschland (Salon Philosophique). Das Buch gehört zu den Lindauer (Psychotherapietagen-)Beiträgen zur Psychotherapie und Psychosomatik, herausgegeben von Michael Ehrmann. Leon Wurmser gilt als einer der bekanntesten Psychoanalytiker, der sich vordringlich mit schweren Persönlichkeitsstörungen und deren Schamkonflikten beschäftigt. Vorangestellt wird ein Zitat von Henrik Ipsen“ das wieder geborene Auge verwandelt die alte Tat“. Nach einer Einführung – Konflikt und Dialog – ist das Buch in acht Vorlesungen aufgebaut.

Der Autor bezieht sich und zitiert in dichterischer und blumiger Form eine Menge von anderen Autoren, Bibelzitaten und Zitaten aus Mythen und bezieht sich auf Fallbeispiele. Außerdem hat er ein umfangreiches Autorenverzeichnis. Bei der Fülle des Materials gelingt er ihm nur teilweise den roten Faden zu verfolgen, und der Leser muß ihn von sich aus bewahren. Dazu tragen auch die acht Vorlesungen bei, wo sich manches unter veränderten Perspektiven wiederholt. Trotzdem, wenn der Leser sich durch Text durchgekämpft hat, ist es durchaus ein bereicherndes Buch, das einen tiefen Einblick in die Ursachen von tiefgreifenden Persönlichkeitsstörungen und kulturellen Voraussetzungen und den Umgang mit dahinter stehender Scham beschreibt. In Anbetracht der Fülle des Stoffes kann ich Ihn nur auszugsweise wiedergeben.

Klappentext: Es geht nicht nur um die vordringlich nach außen gerichtete Scham, sondern vielmehr um deren Innerlichkeit. Der Autor beleuchtet, wie sich solche Inneren Schamkonflikte in allen Beziehungen widerspiegeln und in fataler Weise wiederholen. Dabei legt er den Schwerpunkt auf folgende Themen: die negative therapeutische Reaktion, das böse, unbarmherzige Auge, die Dynamik von Neid und Eifersucht und deren Wurzeln im Schamgefühl, die Lüge und den Verrat. Er geht auf einige Grundzüge der Arbeit mit schweren Neurosen und auf die sich ständig verwandelnden Identität von Analytiker und Therapeut und damit verbundene Konflikte ein. Auch die Ursprünge der Gewissensbildung und der Zwiespalt des Innenrichters und seine verschiedenen Seiten kommen zur Sprache.

Einführung

In seiner Einführung zur Therapie greift er dabei auf Metaphern zurück zum Beispiel der einer Berg- und Gratwanderung zwischen Abgründen, den überwältigenden Schuldgefühlen für Erfolg und Unabhängigkeit und ebenso übermannenden Schamgefühlen über Versagen und Schwäche. Es scheint so eng zu werden, dass die Verzweiflung immer wieder über Hand zu nehmen droht. Des Analytikers warme Gegenwart und Spontaneität zusammen mit dem Verstehen der Inneren Zusammenhänge und Herkunft vermag den Absturz zu verhindern. Dasselbe gilt für die schweren Loyalitätskonflikte. Auf dieser Bergwanderung ist es ermutigend, nur immer gemächlich einen Schritt vor den anderen zu setzten.

Vor allem bei doppelbödigen Mitteilungen, double-bind messages, besteht in der Hintergrundsfamilie und nun auch im Inneren des Patienten eine ständige Diskrepanz zwischen dem, was gesagt wird, und dem, was gemeint ist, zwischen dem, was die Worte sagen, und dem, was die Haltung und die Mimik oder die unbewusste Intention, ja zuweilen auch die bewusste Absicht ausdrücken. Auf die Kommunikation ist kein Verlass. Sei unabhängig, doch bleibe zugleich abhängig von uns; habe Erfolg, aber sei nicht erfolgreich; sei besser als wir, aber überflügele uns nicht. Sowohl Vollkommenheit als auch Versagen werden zugleich erwartet. In der Therapie, hilf mir, aber hilf mir nicht. Für ihn ist es erschütternd, die Selbstsabotage und Selbstzerstörung in entscheidenden Lebensbelangen mit anzusehen und diese weder einfach passiv hinzunehmen noch mit über-ich-hafter Forschheit, mit Zorn und Ungeduld einzuschreiten. Geduld, Takt, Verstehen und Aktivität sind jenen drei Tugenden des Bergsteigers ähnlich.

Ein anderes Gleichnis ist für ihn, wie sich plötzlich die Sicht auf ein einzigartiges Panorama eröffnet, so ist nach langsamem, mühsamen Aufstieg etwas schlagartig Neues da. Die einzig wirklich verjüngende Erfahrung besteht nicht darin, fremde Lande zu besuchen, sondern andere Augen zu besitzen. Die neue Sichtweise verwandelt die Sicht des Weges. Das Heilende ist die gewandelte Bedeutung, was Freud als „Nachträglichkeit“ bezeichnete. Die nachträgliche Sichtweise verändert die ursprüngliche Sicht der Dinge.

Wurmser beschreibt, das gilt nicht nur für seine Patienten, sondern auch für Therapeuten, wie die tiefen Traumata seiner eigenen Kindheit und Jugend in abgeschwächter und abgewandelter Form ihm immer wieder begegneten und begegnen. Er wird mit Sätzen konfrontiert; jede Form des Andersseins wird mit dem Tode bestraft, „Schafe, die sich von der Herde entfernen, frißt der Wolf.“ Er ist viel toleranter und geduldiger geworden. Um zur Parabel zurückzukehren, es gibt zumeist mehrere Wege, um zum Gipfel zu kommen, bessere und schlechtere. Er hat sich klargemacht, wie alles innerlich im Widerstreit von Gegensätzen abläuft, doch wie sich allmählich diese Polaritäten gegenseitig ergänzen können. Es gibt unterschiedliche Arten, mit diesen Gegensätzen umzugehen. Die Therapie bleibt leer, wenn sie nicht mit einem ganz spezifischen Erlebnisinhalt gefüllt wird.

Für ihn ist die ständige Einbeziehung der Genese, der historischen, persönlichen Entwicklung und Prägung, unerlässlich. Für die Therapie ist es unerlässlich, den Patienten bei der Differenzierung von Vergangenheit und Gegenwart zu helfen, und nicht den Patienten Übertragungsdeutungen überzustülpen.

Er meint, jede Orthodoxie ist ein Schutz gegen die tiefe Unsicherheit angesichts des Übermaßes der Anforderungen, die jede Behandlung an uns stellt. Diese Angst ist verständlich, aber soll zur Bescheidenheit und nicht zur Selbstgerechtigkeit führen. Er prangert die Bürokratisierung der Medizin an. Von manchen Autoren wird sogar die traumatische Vergangenheit weitgehend infrage gestellt und ausgeklammert. Bei ihm hat sich durchgesetzt, wie sehr der analytische Prozess von beiden Teilnehmern zugleich bestimmt und zusammen gestaltet wird, also der Prozess der Intersubjektivität. Dabei ist die Einfühlung, Empathie unabdingbar, und die Rolle der realen Beziehung macht diese Arbeit am Konflikt erst möglich. Vor allem kann und soll sie wohl die allererste mitmenschliche Beziehung im Leben sein, in der man in Wirklichkeit nicht verurteilt wird.

1. Vorlesung – Gib dein Herz dir selbst zurück – Scham und Schamabwehr

In der ersten Vorlesung schreibt er über die Selbstloyalität, sich selbst treu zu bleiben. Denn die Patienten schämen sich vor sich selbst, wenn sie die höchsten Verpflichtungen verrieten oder ihrem innersten Ideal nicht treu blieben. Diese Scham geschieht vor dem Inneren Auge, und das Verhalten, für das man sich schämt, verletzt ein hohes Ideal, das wirkliche Selbst oder das eigentliche Sein und eine heilig gehaltene Beziehung. Diese Scham beherrscht das Innere und davor besteht eine Angst – die Schamangst. Dabei wird eine bevorstehende Bloßstellung und damit Erniedrigung gefürchtet. Diese Angst kann in feiner Signalform auftreten oder als überwältigenden Panik. Und vor dieser Bloßstellung möchte man sich verstecken oder ganz verschwinden, wenn nötig durch eine Auslöschung. Verachtung und Sühne und Sehen und Verschwinden vor dem Inneren Auge, das im außen gefürchtet wird, spielen eine besondere Rolle.

Gegen die Bloßstellung wendet sich ein Ehrgefühl, Respekt vor sich selbst, und ein vorbeugendes Sichverbergen als Reaktionsbildung. Die Scham ist eine unentbehrliche Wächterin der Privatheit, unserer Innerlichkeit, die den Kern unserer Persönlichkeit schützt, unserer intensivsten Gefühl, unserem Sinn der Identität und Integrität und vor allem der sexuellen Wünsche, Erlebnisse und Körperteile. Ohne diese Hülle der Scham fühlt man sich der Würde beraubt. Man kann dabei den Objektpol vom Subjektpol unterscheiden, vor dem man sich schämt und wofür man sich schämt. Verachtung und Entwertung des anderen sind eine Art von Umkehrung der Scham.

Eine Patientin bekundet ständig ihren eigenen Unwert, kommt zu spät zur Stunde oder will ganz absagen. Bald wird deutlich, sie verbirgt ihre stärkeren Gefühle hinter einer Schauspielermaske, einem falschen Selbst, hinter dem ihr wahres Selbst, ihr echtes Ich nie zur Geltung kommen. Sie führt seit ihrer Kindheit ein Scheinleben, voller Angst, beschämt zu werden, ihr authentisches Selbst zu zeigen und dann abgeschossen zu werden. Dahinter steht einer Absolutheit der Erwartung, die sie an sich selbst stellt, vollkommen in allem zu sein und damit das Ideal des Vaters zu erfüllen und zugleich nicht unberechenbar und lückenhaft wie ihre Mutter zu sein. Es wird bald deutlicher, in welchem Ausmaß sie voller Eifersucht und Neid ist, die vor ihrem unbarmherzigen inneren Richter blockiert sind. Sie übernimmt die Abweisung und Verurteilung selbst, ehe diese von außen kommt. Dann hat sie Kontrolle darüber. Zwischen ihrem falschen Selbst und ihrem wahren Selbst besteht eine unüberbrückbare Kluft, wie eine zerbrochene Wirklichkeit. Das Primärsymbol der Scham ist die Unsichtbarkeit, um nicht schmutzig und unordentlich zu sein. In ihrem Inneren ist nämlich die Betonung der Erscheinung, die Haltung ihrer Mutter, gut auszusehen vor der Welt.

Die Familientradition der Eifersucht ist ein erdrückende Erbe, ein Schatten, aus dem sie nicht auftauchen kann. Sie hasste es, den Neid der Mutter auf ihre Schwester, die vergrabene Botschaft ihrer Mutter. Erst nach mehrjähriger Analyse bricht die ganze Intensität ihrer Eifersucht, ihre Rachewünsche gegenüber der der Mutter und ihre zersetzende Entwertungssucht durch, eine Umbenennung der Beziehungstraumata, das Anwenden von passiven zur aktiven und eine vorwegnehmende Abwertung. Den Hintergrund bildet eine abgrundtiefe Scham. Sie ist immer wachsam in der großen Angst, die Ausgeschlossene zu sein. Ihre Mutter spielt auch jetzt das Spiel ganz vorzüglich, dass alle ihre Kinder sich immer wieder benachteiligt und ausgeschlossen fühlen müssen, dass sie weniger an Liebe und Aufmerksamkeit und keine Wertschätzung bekommen, und dass die anderen mehr an Gütern erhalten. Gegen all die Wut und Rachsucht musste sie den inneren Wächter mobilisieren, eben jenen nach absoluten Wertmaßstäben urteilenden Inneren Richter. Bekäme sie Anerkennung, wäre dies ein Zugeständnis ihres Versagens und damit würde sie entlarvt. Sie musste zwei gegensätzliche Aufgaben erfüllen, die größte und zugleich die kleinste zu sein, das erste aus Angst vor der Scham, das zweite aus Angst vor dem Neid, ein unlösbares Dilemma, das sich ständig wiederholt. Sie steht unter dem Zwang, sich zu entwerten, sich zu erniedrigen und so dem Neid der Mutter und der Eifersucht der Geschwister vorzubeugen.

Es ist eher ein schwarzes Loch, etwas Grenzenloses an Verzweiflung, das von Holocaust Überlebenden bekannt ist. Ein Abwehrweg ist der der Sexualisierung, die von einem überwältigenden Schamgefühl begleitet ist. Ein anderer Weg ist die Allmacht der Verantwortlichkeit als Abwehr gegen die traumatische Hilflosigkeit. Wiederum ein anderer der der völligen Entwertung und Erniedrigung des Gegenübers oder die Ersetzung der fehlenden Liebe durch das Zuckergebäck des Erfolges oder einer Anpassung an einer Welt der äußeren Erscheinung. Ein anderer Weg ist die ständige Unterwerfung und Hörigkeit gegenüber einem derartig bösen Objekt. Idealisierung des anderen und Selbstanbetung stehen im Vordergrund. Man kann im anderen nicht erkennen, was man bei sich selber nicht erkennen kann. Ohne Identität kann man keine Verbindung schaffen und ohne Verbindung und Beziehung kann keine Identität entstehen. Identitätslosigkeit ist aber eine Quelle von Scham. Frühe traumatische Erfahrung wird zum Teil des psychischen Apparates, während später Traumata ein Fremdkörper bleiben.

2. Vorlesung – Die negative therapeutische Reaktion – eine integrative Sicht

Erfolge werden in systematischer Weise zunichte gemacht, und es besteht eine Rechthaberei und Rache in Form des masochistischen Triumphes, ich darf nicht erfolgreich sein. Man kann es auch als Ausdruck des Trotzes oder eine Fixierung auf den sekundären Krankheitsgewinn sehen. Unbewusste Schuldgefühle werden durch Bestrafung im Leid als masochistische Unterwerfung gesehen, als Strafbedürfnis. Es besteht eine primäre Identifikation mit dem Liebesobjekt als Abwehr gegen unerträglichen Schmerz infolge des Traumas oder ein Anklammern an den Schmerz. Die zentrale Rolle der Trennungsangst führt zu Trotz als Abwehr gegen die Hingabe- und Verschmelzungswünsche.

3. Vorlesung – „Hilf mir, aber hilf mir nicht!“

Der Zwang, den anderen zu enttäuschen
Die Indexpatientin tat alles, um von den anderen geliebt zu werden. Das war als hervorstechende Abwehr ihre Reaktionsbildung gegen alle Formen von Aggressionen, namentlich Eifersucht und Neid, durch die Selbstverurteilung und Selbstunterwerfung, die natürlich ihr Verhalten des Ressentiments nur noch vertiefen. Sie ist daher äußerst empfindlich gegenüber wirklicher und angeblicher Kränkung. Sie erging sich in Esszwängen und anschließenden Selbstverurteilungen.

In der Gegenübertragung erlebte er als Therapeut eine innere Berg- und Talfahrt, in seinen Hoffnungen bestärkt und ermutigt und immer wieder von neuem enttäuscht und geprellt. Es ärgerte ihn, der selbst in dem Konflikt zwischen hohem Arbeitsethos und dem innerem Widerstand dagegen verspürt, dass sich jemand so seinen passiven Strebungen überließ. Ihm war aber klar, dass sie selbst unter höchsten Anforderungen an Perfektion stand, eine Metapher, eine Lokomotive, die unter Volldampf läuft, während die Bremsen angezogen sind und sie scheinbar still steht. Sie erregt bei anderen die Wut, die sie bei sich selber unterdrückte oder zuweilen durch ein Opfersein rationalisieren konnte. Sie blamierte den anderen und machte ihn wütend, um nicht selber blamiert und wütend zu sein.

Wie bei Patienten mit Schneideritualen und Opferritualen in den meisten Religionen zu sehen ist, hat das Blutvergießen als Läuterung und magische Verwandlung eine beträchtliche klinische und große kulturelle Bedeutung. Bei ihm taucht jedoch eine andere Art der Blutfantasie auf, das angst- und lustbesetzte Thema des blutsaugenden Vampirs. Das hämische Lachen des Vampirs erinnerte sie an das Lachen ihres Vaters auf Kosten anderer. Daher wandte sie ihr ganzes Leben lang all ihre Aggressionen gegen das eigene Selbst und erschien völlig unaggressiv, erwartet jedoch die blutgierigen Angriffe von außen. Sie achtete sehr darauf, ja keine Eifersucht und keinen Neid zu bezeugen in dramatisch projizierter Weise und als Kompromissbildung.

Sie leidet unter der Furcht vor dem Verdienstanspruch des anderen, kann den anderen nichts gönnen, da sie dankbar sein müsste, ein abgewehrter Neid. Ihr Lebensinhalt ist das Opfer- und Märtyrertum. Das Lügen war ihr zur zweiten Natur geworden, da sie sich in ihrer Familie nie wahrhaftig ausdrücken konnte. Es habe nur gegolten, den Anschein zu wahren, nicht wirklich zu sein. Wegen ihrer Rachegedanken fühlte sich zugleich schuldig. Sie will bestätigt werden, dass die anderen sie mögen, auch wenn sie sie fortwährend enttäuscht.

4. Vorlesung – Die Verleugnung der Zeit durch die Macht der Negativität

Die Patientin identifiziert sich stark mit beiden Eltern und ist in widersprüchlicher Loyalität an sie gebunden. In dieser Pattsituation ist es ihr unmöglich, sie selbst zu werden. Die Zeit muss stehen bleiben, um das Wachstum, die Veränderung, das Erwachen und Verantwortlichwerden aufzuhalten. Die unvermeidliche Trennung wird als zu schmerzhaft empfunden. Die Aufhebung der Zeit kann somit als Abwehr gegen die Trennung, gegen Inzest, gegen Mord und Tod und schließlich gegen das Über-Ich begriffen werden. Diese Zeitlosigkeit oder der Zeitstillstand bedeutet Aufhebung der Grenzen und Verleugnung der Endlichkeit der Lebenszeit. Das verlorene Kind verliert auch sich selbst und dabei führt die Seelenblindheit zu einem tieferen Unwertgefühl des Selbst. „Sie verachten mich, sie wolle nichts mit mir zu tun haben, denn ich bin dumm.“ Es ist das Schamselbst unter dem Schuld beladenen Selbst. Es heißt nicht „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sondern „Verurteile deinen Nächsten wie dich Selbst“.

Der Zwang, zu spät dran zu sein und damit alle Versprechungen zu brechen und alle zu enttäuschen, ist erstens eine Wunscherfüllung, die Grenzen zu Gunsten einer archaischen Verschmelzung aufzuheben, mit Mutter und Vater eine frühkindliche Vereinigung und totale Annahme zu verwirklichen, kurz, wieder ein Kind zu sein. Zweitens bedeutet dieser Zwang einen resoluten Trotz gegen die Realität und gegen das Über-Ich, gegen alle Verpflichtungen und Einschränkungen, einen Protest dagegen, getrennt und begrenzt sein zu müssen, erwachsen zu werden und die sadomasochistische Sexualität überwinden zu müssen. Drittens ist er eine Form der Selbstbestrafung und ein Triumph des moralischen Masochismus und damit auch eine Erfüllung sadomasochistischer Wünsche in allen Beziehungen und vermutlich auch in der Sexualität selber.

Ihre Allmachtsfantasien stecken in ihrer Negativität und ihre perverse Macht vom Triumph durch Niederlage. Sie könne sich keine Grenzen setzen, sondern diese müssen von außen diktiert werden. Sie verbindet Leiden mit sexueller Lust, und für sie gibt es keine Liebe ohne Leiden, Demütigung und Opfertum. Die Sexualisierung ist selbst eine Methode, mit der Traumatisierung umzugehen. Sie ist eine Abwehr.

5. Vorlesung – Doppelleben – psychoanalytische Gedanken über Verrat und Lüge

Die Schwester des Verrats ist die Lüge, seine Mutter ist die Scham, und sein illegitimer Vater ist die Rache. Verrat ist das Brechen eines Vertrauens, eines Versprechens, von Treue und Loyalität. Stelle ich die Selbstloyalität über die Pflichten, führt dies zu Schuldgefühlen, denn ich füge anderen Schmerz und Schaden zu. Ein solcher Verrat ist mit Scham verbunden, Scham als Folge des Verrats. Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ruft in den Geschändeten ein sehr tiefes Schamgefühl hervor. Zugleich werden diese Akte als Verrat an dem Vertrauensverhältnis empfunden.

Nach einem eindrucksvollen Vortrag von Richard Gartner hat jeder sechste der Jungen unerwünschten sexuellen Kontakt mit Älteren. Sexueller Missbrauch von Knaben durch Frauen ist viel häufiger, als gewöhnlich angenommen. 60 % der Jugendlichen wurden von Männern missbraucht, 30 % von Frauen und 10 % von beiden Geschlechtern. Verrat findet Eingang in die privatesten, persönlichsten und vertrauensvollsten Beziehungen, und Kinder lernen Macht und Autorität zu missbrauchen. Die Beziehung zum eigenen Selbst wird vergiftet. Vor allem benutzen die Missbrauchenden oft Scham, um die Opfer zu kontrollieren. Oft denken diese, nur Schwächlinge und Memmen, also weibliche, entmannte Männer, lassen es zu, dass sie missbraucht werden. Manche versuchen, dies zu kompensieren, indem sie übertrieben männlich werden, um die Scham so auszulöschen. Der zutiefst Beschämte neigt natürlicherweise dazu, dass passiv Erlebte ins aktive zu wenden. Der Verratene wird zum Verräter, rächt sich am anderen und der Menschheit dadurch, dass er die Normen verhöhnt und alles Vertrauen brechen muss. Wurmser nimmt an, dass der Verräter wohl jemand ist, dessen Vertrauen zuvor, am wahrscheinlichsten in der Kindheit, zutiefst enttäuscht und missbraucht worden ist.

Der eingebaute Verrat führt zu einer masochistischen Inszenierung. Nämlich sich selbst zu behaupten, ist schon eine Form des Verrats, und jede Selbstunterwerfung unter die moralische Diktatur eine Art Selbstverrat. So sind Scham und Schuld unausweichlich. Eine Patientin mit schwer traumatischem Hintergrund äußerte, mein Mann würde eine Trennung als Verrat an unserer gemeinsamen Sache empfinden. An ihn binde sie, sie könne es ihm nicht antun, sie wäre dann ein Schwein. Dieser Ambivalenzkonflikt mache sie verrückt oder süchtig oder körperlich krank, was sie alles schon durchgemacht habe.

„Die Kultur der Unehrlichkeit“ – Verrat und Lüge im politischen Leben. Die Welt will betrogen sein, darum sei sie betrogen. Dieser Satz wird auf Papst Paul IV, gestorben im 16 Jahrhundert, zurückgeführt. Bei Wurmsers Einblicken in das Leben von Institutionen wie Universitäten, Krankenhäuser, großen Korporationen und verschiedene Regierungen fällt ihm immer wieder die ungeheure Verbreitung von und Bedeutung von Verrat und die Disloyalität, von Lügen und Täuschung auf. Viele wissen, nur mit größter Vorsicht, Verschwiegenheit und eigener Täuschung überleben zu können. Die schlimmsten Geschehnisse und Belastungen müssen auch vor den Allernächsten, Frau, Mann, Eltern, Kindern, geheim gehalten werden, im krassen Gegensatz zur scheinbaren Glorie, Ehre, und Macht. Eine Täuschung hatte zum Irakkrieg geführt. Die Folgen von Verrat und Beschämung, Lüge und Verleugnung sind katastrophal und zirkulär und führen zur doppelten Wirklichkeit und Katastrophe. Die Nazis hatten ihre traumatische Kindheit in Härte und Mitleidlosigkeit umgewandelt.

Doppelte Wirklichkeit und Doppelleben. Die Mutter eines Patienten hatte ihn bis zur Pubertät regelmäßig gebadet und dabei immer den Penis manipuliert. Dies führte zu dem Wunsch nach der verführerischen Mutter und der Angst vor der verschlingenden Mutter und zu einem Doppelleben zwischen zwei Frauen. In der Perversion siegt er sozusagen über die Badewanne, hat sowohl die Mutter in all ihrer sexuellen Verführerischkeit als auch die Bestätigung, dass er dabei nicht kastriert wird. Er hat eine lebende, quasi unsexuelle Mutter, bei der die Kastration schon erfolgt ist, und die andere Frau in der sexuell erregenden Rolle, bei der er sich immer wieder Bestätigung holen kann, dass er nicht kastriert sei.

6. Vorlesung – Das böse Auge und das leuchtende Antlitz und der böse Blick und das segnende Auge

Das Auge als ein Fenster der Seele ist ein Urerleben, das Innenleben, das heraus dringt und sich mitteilt – strahlend oder strafend, bedrückt oder zornig oder scheel. Man wird meine Gedanken lesen können, alles Verdeckte wird herauskommen, jeder Makel entblößt, jede Schuld ans Tageslicht gezerrt, jede böse Absicht entlarvt werden. Beim bösen Auge handelte es sich um projizierte Scham, projiziertem Neid und vielleicht Eifersucht sowie um projizierte Rache. Es ist die Angst vor dem eigenen Sich-Schämen-Müssen für einen Mangel, ein Unwertsein, dass man in sich empfindet. Das Auge ist das Fenster des Gewissens, zum Gewissen hinein, aus dem Gewissen heraus, und der Blitz ist der Blitzstrahl der Gewissensmacht, das mit der Allmacht der Gedanken rundherum Fluch und Unheil verbreitet. Der verdrängte Neid, die abgewehrter Eifersucht, dass unterdrückte Ressentiments leben nun im Gewissen, in der Stimme des Innenrichters weiter. Der innere Richter wird als Bürde der Eltern, der Vorväter, ja einer ganzen ethnischen oder religiösen Gruppe weiter getragen.
Der Neid des Vaters auf die Weiblichkeit und die Gebärfähigkeit der Frauen, also der Gebärmutterneid, kann in verborgener, aber zersetzender wirksamer Weise im Innern der Tochter weiterleben und ihr die eigene Weiblichkeit unannehmbar machen oder aber auch im Sohn als Hass und Neid auf das Weibliche fortsetzen, die Frau als das beachtenswerte und gefährlich verschlingende Geschöpf.

Eine Gegenmacht zum Neid ist Faszination. Der Exhibitionist will vor allem mit seinem Glied faszinieren, als Abwehr gegen seine tiefe Scham und Kastrationsangst. Der behandelnde Blick des Führers oder Verführers übt nicht nur Macht und Schrecken aus, sondern hat eine starke erotische, nämlich spezifisch saldomasochistische Ausstrahlung. Der Blick kann noch etwas beschwörendes und penetrierendes haben.

Eine Patientin, die von ihrem älteren, behinderten Bruder und von ihrem Vetter immer wieder sexuell missbraucht und von ihren Nazieltern mit kalter Verachtung behandelt wurde, leidet unter seltsamen Trancezuständen der Erstarrung, die mit ihrer sonstigen warmen Affektivität und Lebendigkeit kontrastierte. In fortgeschrittener Therapie wurde aus dem neidischen Auge das spiegelnde Auge, aus dem bösen Blick das leuchtende Antlitz, aus der Erstarrung und Seelenblindheit die Einfühlung, die Fähigkeit sich in andere hineinversetzen zu können.

Die Macht des Auges. In der Maske der Scham beschrieb Wurmser eine nicht seltene klinische Beobachtung: sein eigenes magisches Auge war vonnöten, um das verlorene Gesicht seiner Mutter wiederzufinden und, ein für alle Mal, durch die magische Kraft seines Ausdrucksvermögen, die Wunde des Liebensunwertes zu heilen. Das gesuchte Auge selbst besaß ebenfalls eine solch magische Wirkung durch die Augen, es lockte, bewunderte und versprach heilende Liebe. Diese beiden Gruppen unbewusster Wünsche, durch Suchen und Sich-zeigen Liebe und Anerkennung zu finden, waren durch die Scham abgewehrt. Heute fügt er hinzu: Durch das verachtende Sehen, das bestrafende und neidische oder eifersüchtige Auge, durch die anklagende Stimme und vor allem durch das Nichtgesehen und -gehört werden als der, der man ist. Liebesunwertsein heißt, kein Antworten des Auges zu erblicken und keine erwidernde Stimme zu vernehmen, wie sehr man auch beide sucht.

7. Vorlesung – Über-Ich-Analyse und das Verweben von Scham-Schulddynamik

Die Ursprünge des Über-Ichs in der Biologie. Wormser beschreibt die überraschende Sensibilität mancher Primaten für das Schicksal anderer. Soziales Zusammenleben erfordert Empathie, die besonders bei Schimpansen in Erscheinung tritt. Empathie, die Fähigkeit, soziale Regeln zu lernen und zu befolgen, Reziprozität und Friedensstiftung sind die Grundlage der Sozialität. Bei Menschen komme hinzu, die viel strengere Durchsetzung von Sittengesetzen durch Belohnung, Strafe und Ruf, sowie ein Ausmaß an Urteil und Vernunft, das es bei den Tieren nicht geben ist. Ebenso komme die Religion hinzu. Da die Moralität sich in der Gruppe und ihr gegenüber entwickele, beschränke sie sich zunächst auf diese und richte sich gegen die Außenseiter, besonders in Form von Kriegsführung, so dass auch hier ironischerweise unsere edelste Leistung, die Moralität, evolutionäre Beziehungen zum niedrigsten Verhalten habe. Die Bausteine der Moralität seien geistige und soziale Fähigkeiten, Gesellschaften aufzubauen, in denen geteilte Werte individuellen Verhaltens mithilfe eines Systems von Billigung und Missbilligung einschränken. Moralität ist genauso fest verwurzelt in Neurobiologie wie alles andere, was wir tun und sind. „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz“, ist die Grundlage der Ethik, Mitgefühl zu haben, auch mit Tieren.

Die ubiquitären Mikrotraumata und Konflikte, die jeder Kindheitsentwicklung begleiten und zum großen Teil mit Signalqualitäten, statt überwältigenden Affekten ablaufen, die nicht zu den Zwanghaftigkeiten und Polarisierungen der pathologischen Entwicklung führen und bei denen innere Konflikte weitgehend gelöst sind und sich nur bei sorgfältiger Introspektion oder bei Krisen bemerkbar machen. Bei schweren, sich wiederholen Traumatisierungen ist das Resultat, dass die erregten Gefühle rasch überwältigen und entgleisen der inneren Kontrolle. Sie werden 1. global und entdifferenziert, 2. entziehen sich jeglicher Symbolisierung, sie werden deverbalisiert und 3. werden sie so empfunden, als wären sie körperlicher Natur, sie werden resomatisiert. Sie werden zu Merkmalen der Affektregression. Auch wird die Sexualisierung als archaische Abwehr eingesetzt, um Affekte zu regulieren.

Diese Überflutung mit Affekten, zusammen mit der Sexualisierung, führt zu einer überwältigenden Empfindung des Sichschämens, der Demütigung. Keine Kontrolle über das eigene Gefühlsleben zu haben ist Ursache tiefster Scham. Dann werden aggressive Wünsche, Impulse und Fantasien als Mittel zur Wiederherstellung der Kontrolle eingesetzt. Sie sollen den weiteren Absturz in jener Regressivenspirale aufhalten. Die archaische Gleichsetzung von dramatischen Gefühlsstürmen, Sexualisierung und Aggression führt mit der Zeit zu massiven Gegenmaßnahmen durch das Über-Ichs, in Gestalt von durchdringenden, verinnerlichten und globalen Schuld- und Schamgefühlen.

Ein guter Teil dieser Hypertrophie des Über-Ich’s wird durch die Allmacht der Verantwortlichkeit als Abwehr gegen die traumatische Hilflosigkeit begründet: „es liegt völlig an mir, das Schreckliche zu verhindern. Tritt es ein, ist es ganz und gar meine Schuld“- die Magie der Verantwortung. Stark spielt bei der Genese des archaischen Über-Ich’s die Projektion von grausamen Elternbildern bei: „ich war zuerst aktiv, ehe es mir von außen her, also passiv passiert“. Das übermächtige Über-Ich ist als notwendige Abwehrschranke gegenüber der unerträglichen gefährlichen eigenen Aggression. Dann ist da noch der symbiotische Zirkel, der Kreis von Trennungsschuld und Abhängigkeitsscham. Es ist eine doppelte Wirklichkeit innen und außen, einerseits eine Welt von Allmacht und Ohnmacht, also voll von magischen Erwartungen der Erfahrung, eine masochistische Grundhaltung und ein Weltverstehen, die von der Allmacht des Leidens und der Allmacht der Verantwortlichkeit bestimmt sind. So fühlen sich unsere Patienten völlig mit der Selbstverurteilung identisch, sie sind ganz mit einer chronischen Haltung von Vorwurf und Entwertung identifiziert. Technisch ist es dabei überaus wertvoll, diesen Teil des Selbst, diese Gestalt des Innenrichters, dem Rest der Selbst gegenüberzustellen und jene Identifizierung aufzubrechen, gleichsam einen Keil zwischen den Geist der unablässigen Vorurteile und der Person als ganzer zu treiben, so dass das archaische radikale Über-Ich ich fremd wird.

Während im späteren Leben Schuld und Scham oft zusammenwirken, das gleiche Verhalten kann leider beides hervorrufen, je nach Gesichtspunkt, sind die beiden ursprünglich und in ihrem Kern antithetisch: Scham bezieht sich auf eine Schwäche und Ohnmacht, Schuld auf Stärke und Macht. Die klinisch bedeutsame Doppelseite von Trennungsschuld und Abhängigkeitsscham stehen im Gegensatz zueinander. Das Schuld- Scham-Dilemma ist fast ubiquitär.

Es macht den Kern der meisten Tragödien aus, in denen es bei jeder der heroischen Figuren darauf hinausläuft, dass sie nicht schwach, treulos, ehrlos, falsch, verräterisch erscheinen wollen und daher nicht nachgeben können und mit der beharrlichen Behauptung eines absoluten Wertes dann die Rechte von Mitmenschen oder Staat oder Natur verletzen, dabei gewisse und verletzliche Grenzen überschreiten und deswegen bestraft und vernichtet werden. Die überwältigende Affekte und damit das tragische Pathos, die unwiderstehliche Zwangsläufigkeit des Ablaufs, der Konflikt zwischen hohen Werten, wobei die Totalität in der Übersteigerung und die Idealisierung solcher Werte jeden Wertkonflikt unlösbar machen muss, Hybris als die Aggression im Dienste solcher übersteigerten Ideale. Die Welt der Tragödie vertritt zwei Skalen der Bewertung und des Rechts, man sollte zugleich stark und schwach sein, sich zugleich als Mitglied der Gemeinschaft unterordnen und sein Selbst unwesentlich machen, und man solle unabhängig, auf sich selbst vertrauend, tüchtig und verantwortungsvoll sein. Das Schuldgefühl setzt der Stärke Schranken, Scham verdeckt und verhüllt Schwäche.

8. Vorlesung – Fünf Philosophische Dimensionen der Psychoanalyse

Von allen menschlichen Wissenschaften ist die Wissenschaft des Menschen die des Menschen würdigste, sagte der Philosoph Malebranche 1674, und er stellt fest, dennoch ist diese Wissenschaft die nicht am meisten gepflegte und ausgebildete. Die Kant’sche Frage „was ist der Mensch?“ schließt die verborgenen Voraussetzungen nach Freud ein: die innere Beziehung und das Dialogische als Grundlage von Selbsterkenntnis und Heilung, der innere Konflikt als Verstehen des Seelischen, die Unbewusstheit großer Teile innerer Vorgänge und des Gewissens und der Eigengesetzlichkeit des Innenlebens. Durch Freud war alles alt und wurde gleichzeitig neu.

1. Dialog, innige Beziehung, Liebe: In der Bibel heißt es, die Angst, die Sorge, der Kummer im Herzen des Menschen, er soll sie aussprechen und ein gutes Wort wird ihn froh machen. Im Anfang ist die Beziehung, dass eingeborene Du, der Mensch wird am Du zum Ich.

2. Innerer Konflikt: Wir können Psychoanalyse als die Methode definieren, welche die Subjektivität systematisch zu untersuchen und zu objektivieren strebt, und zwar spezifisch unter dem Gesichtspunkt einer konsequenten Konfliktanalyse. Der innere Konflikt des Augenblicks dient so als Vertreter des ungelösten Lebensproblems, der innere Konflikt zwischen Gut und Böse. Konflikt ist aber wiederum nur ein Zugang, wie man sich gegensätzliche Kräfte auf jeder Ebene des Geisteslebens vorzustellen hat. Ihre Komplementarität ist ihr notwendiges Gegenstück. Zumeist handelt es sich nicht um ein schroffes entweder – oder, sondern um ein mehr oder weniger, ein Ausbalancieren, das sich allmählich im Laufe der Behandlung eingependelt.

3. Das Gewissen – der innere Richter.

4. Primärvorgang und mythisches Denken: Absolutheit ist ein Kennzeichen mythischen Denkens, doch besteht es aus weit mehr als ihr. Mythos kann am besten als ein elementarer Glauben an die konkrete Gültigkeit einer metaphorischen Erzählung beschrieben werden. Das mythische Denken bezieht sich auf eine ganze Weltanschauung. Sie ist das kulturelle und soziale Äquivalent des innerpsychischen Primärvorganges. Was für den Einzelnen gilt, gilt auch beim großen: je schwerer die zu bewältigen Konflikte sind, umso ausgeprägter ist die Herrschaft dieser Art des Denkens. Symbolische Darstellung erfolgt als Identifizierung mit den Dingen, für den Mythos besteht ein Verhältnis zur realen Identität. Das Bild stellt nicht die Sache da, es ist die Sache, es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt so wie sie, so dass es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt.
Der Kausalbegriff: Jede Gleichzeitigkeit, jede räumliche Begleitung und Berührung schließt hier schon an und für sich eine reale kausale Folge in sich. Jedes einzelne Geschehnis im mythischen Denken wird durch einzelne Willensakte, nicht durch allgemeine Gesetze erklärt. So wird alles Üble und Kranke einem bösen Willen zugeschrieben – dem bösen Augen, einer verheerenden dämonischen Kraft, zur Quelle schweren Unglücks und als Fluch, der den Begriff persönlicher Verantwortung völlig entrückt.
Das Ganze und die Teile: Das Ganze hat nicht Teile und zerfällt nicht in sie, sondern der Teil ist hier unmittelbar das Ganze und wirkt und fungiert als solches. Das Prinzip des Pars pro Toto ist ein Grundprinzip der primitiven Logik. So bedeutet Macht über einen Körperteil Macht über den ganzen Körper.
Die dinglich-substantieller Natur von Wirken und Eigenschaften: Eigenschaften, Einflüsse und Vermögen werden als ein dingliches Substrat gebunden betrachtet und können in konkreter Form übertragen und vernichtet werden, zum Beispiel als Substanz der Sünde, die dem Sündenbock auferlegt oder physisch abgewaschen und ins Meer geworfen werden kann, oder als Substanz des Segens, die durch Handauflegen übertragen werden kann. Diese Denkkategorien werden gewöhnlich benutzt, um widersprüchliche Motivierungen gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen. Das symbolische Selbst birgt die Widersprüche und Gegensätze innerer Konflikte. Es ist ein Versuch, die Gesetze der Inneren Wirklichkeit fassbar zu machen und sie auszudrücken. Das Mythische ist, wie die Kunst, die Sprache der Seele. Sie spricht von einer menschlichen Wirklichkeit, die der Realität der Natur und deren Wissenschaft ergänzend gegenübertritt. Wird die Tendenz des mythischen zum absoluten erhoben, wird es selbst als Erfassung der Wirklichkeit absolut gesetzt und bedient sich dabei der Rationalität der äußeren Wirklichkeit, so zeigte es seine alles zerstörende Brisanz und kann zum Bösen schlechthin werden – der Rechtfertigung von Grausamkeit, Mord, Lüge und Vernichtung.

5. Zum Schluss: ein paar Reflexionen der Weisheit. Weisheit ist mehr als Philosophie oder Psychoanalyse. Dass Ich – Du geht dem Ich – Es voraus. Dass Erahnen und das Erleiden der Abgründigkeit und des Grauens, der tiefen Widersprüchlichkeit und Paradoxie des Daseins gehören zur Weisheit. Einer Seele Grenzen kannst Du niemals finden, jeden Pfad hinschreitend, so tiefen Sinn hat sie.

Ich habe das Buch auszugsweise wörtlich wiedergegeben, zu erkennen an einer blumigen Sprache, die nicht meinem nüchternen Stil entspricht. Ich hätte den Text vielfach kommentieren, durch eigene Erfahrungen ergänzen, aber kaum widersprechen können. Wurmser hat zwar beiläufig die transgenerationelle Abfolge erwähnt, aber nicht extra mit dem Finger darauf hingewiesen. Dies möchte ich hervorheben, und zwar nicht nur in den Demütigungen und Erniedrigungen, sondern auch in den Abwehrstrategien wie Projektionen und Introjektionen, vor allem dem Trotz. Schließlich erging es den Eltern und Großeltern auch nicht anders. Sie hatten den Kern der Reaktionsbildungen schon in sich und haben ihn sozusagen weiter vererbt.

Des Weiteren steht meiner Ansicht nach als tiefste und größte Scham dahinter, die abgewehrt wird, dies alles, und damit sich selbst zu schädigen und zu sabotieren, übernommen und geglaubt zu haben. Dahinter steht natürlich ein Größen- und Autonomiebild von Selbstverantwortlichkeit, ungeachtet der Tatsache, daß der Mensch als kleines Kind geprägt wird, das Selbst und das Ich vom Du bestimmt und mitbestimmt ist, der Mensch sozusagen in der Intersubjektivität heranwächst, geradezu auf sie angewiesen ist. Inwieweit diese Selbstverantwortlichkeit verbreitet und die Gesellschaft und Kultur von ihr durchdrungen ist, dazu mag als Beispiel die Rechtssprechung – ein Konsens zwischen den Parteien – dienen, in der der Täter allein bestraft wird für Dinge, die schon in der Kindheit von anderen angelegt und mitbestimmt wurden und für die er nur beschränkt etwas kann. Damit werden das Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit des Kindes im großen gesellschaftlichen Rahmen abgewehrt.

* * *

Léon Wurmser, Scham und der böse Blick, Verstehen der negativen therapeutischen Reaktion, 214 Seiten, Kohlhammer, 2. Auflage, 2014, ISBN: 978-3-17-023281-5, Preis: 26,90 EUR (D)

Anmerkung:

Der Artikel von Dr. Bernd Holstiege wurde am 19.01.2015 im WELTEXPRESS erstveröffentlicht.