Die Eisenstange im Maul des Pferdes – eine bewusst unwissenschaftliche Betrachtung

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1987
Röntgenaufnahme eines double bridle in situ, bestehend aus Bridoon Bit, Curb Bit und Kinnkette. Die langen Anzüge mit einem Satz Zügel, die in den unteren Ring eingeschnallt werden, erlauben Druck vom Curb und der Kinnkette, die eine Hebelwirkung gegen die Mandibula ausüben. An der Stelle, wo der Druck ausgeübt wird, ist der Durchmesser der Mandibula nicht größer der Mittelschnitt durch ein Standard-Ei. (Abb.2) © Foto: Robert Cook

Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland (Weltexpress). Pferde werden bekanntlich schon mit einer Eisenstange im Maul geboren. Diesen Eindruck kann man bekommen, wenn Reiter wie selbstverständlich und unreflektiert ihrem Pferd das Gebiss ins Maul schieben. Oft weigert sich das Pferd und es gibt einige Tricks, wie man es überlisten kann. Dass es dem Pferd unangenehm sein könnte, wird nicht in Betracht gezogen. „Das Pferd ist unwillig oder ungehorsam“, hört man zuweilen.

Der Name Gebiss ist an sich schon ein Euphemismus (Verharmlosung, Beschönigung), denn ein Gebiss im üblichen Sinne hat das Pferd.

Es ist eine Eisenstange und bleibt auch eine, wenn sie einmal oder zweimal gebrochen ist.

Das Maul des Pferdes bietet diese Möglichkeit an durch seine Anatomie, aber diese Anatomie ist in der Evolution entstanden durch das Fressverhalten des Pferdes, nicht erst vor 4000 Jahren in der Bronzezeit, auf die man das erste Gebiss zurückführt, weil man damals wohl glaubte, das wilde Pferd so als Arbeitstier gefügig machen zu können.

Wie frisst das Pferd?

Es ist also als Erstes geboten zu beobachten, wie das Pferd frisst in der natürlichen Umgebung, z.B. beim Grasen. Bei dieser Tätigkeit verbringen die Pferde die meiste Zeit des Tages und der Nacht. Reine Boxenpferde kennen oft eine Wiese nur aus ihrer Zeit als Fohlen.

Da viele Reiter ihr Pferd noch nie länger beim Grasfressen beobachtet haben, lohnt es sich, diesen Prozess aus psychomotorischer Sicht genauer zu betrachten: Wenn ein Pferd auf eine Wiese kommt, fängt es nicht gleich an zu fressen, sondern geht in der Regel erst mal ein paar Schritte mit tiefem Kopf und sucht sich eine Stelle aus, die ihm anscheinend geeignet erscheint. Dabei ist man als Mensch bisweilen erstaunt, dass es am grünen Klee oder Löwenzahn erst mal vorbei geht und an einer Stelle beginnt, wo vielleicht etwas vertrocknetes Gras steht aus menschlicher Sicht.

Wahrscheinlich spielen dabei der Geruchssinn und die optische Wahrnehmung des Pferdes eine große Rolle, die beim Pferd um ein Vieles stärker ausgeprägt sind als bei uns Menschen.

Dann beginnt das Pferd nicht einfach an zu fressen, sondern testet erst mit seinen vorderen Lippen das Fressbare und beginnt dann die Grashalme mit den Lippen und Schneidezähnen abzureißen. Danach wird das Bündel mit Hilfe der Zunge nach hinten geschoben und mit den Backenzähnen zerkaut, bevor es herunter geschluckt wird.

Schon jetzt kann man sagen, dass das Maul ein sehr sensibles Organ ist beim Prüfen der fressbaren Nahrung.

Das hat das Pferd in 34.000.000 Jahren anscheinend gelernt, denn beim angeblich ersten  Pferd, das man in der in der Grube Messel bei Frankfurt gut erhalten gefunden hat, konnte man im Magen nach 34 Millionen Jahren noch die gleiche Zusammensetzung der Nahrung finden wie beim artgerecht gehaltenen Hauspferd.

Manchmal geschieht es beim Graszupfen, dass ungewollt etwas nicht fressbares mit ausgerissen wird. Das wird dann sorgsam aussortiert und fallen gelassen. Wenn zum Beispiel am Grasbüschel noch Wurzeln mit Erde herausgezogen wurden, versucht das Pferd die Erde am Boden abzustreifen. gelingt dies nicht, wird der Grasbüschel fallen gelassen. Oft wechselt das Pferd beim Grasen seinen Platz, obwohl es aus menschlichem Ermessen an einer schmackhaften  Stelle grast. Dass es trotzdem weitergeht, kann natürlich auch noch andere Gründe haben, die in seiner Natur als Beutetier begründet ist. Wenn es allein grast, nicht in der Herde, schaut das Pferd auch gelegentlich hoch und sondiert mit all seinen Sinnen, die, wie gesagt, um ein mehrfaches besser sind als beim Menschen, seine Umgebung. Dabei hört es auf zu kauen.

Die Kaumuskeln des Pferdes ermüden praktisch nicht, anders als beim Menschen.

Die Anatomie des Mauls ist, wie gesagt, auch unterschiedlich. Die Lücke zwischen Schneidezähnen und Backenzähnen fehlt beim Menschen. Das hat große Bedeutung für die Benutzung einer Eisenstange. Beim Pferd liegt die Eisenstange direkt auf der Zunge. Nimmt der Mensch eine Eisenstange ins Maul, liegt diese auf den Zähnen, was weniger unangenehm ist.

Wollen Sie lieber ein einfach oder ein doppelt gebrochenes Gebiss? © 2019, Foto/BU: Bernd Paschel

Hilfe, ein Fremdkörper im Maul!

Manche Pferde haben gelernt, das Gebiss zwischen die Backenzähne zu nehmen, Erfahrene Reiter kennen das und wissen, dass dann ein Pferd mit den Zügeln kaum noch zu bremsen ist.

Es stellt sich also die Frage: Was ist gleich und was ist unterschiedlich bei Mensch und Pferd, wenn sich ein Fremdkörper im Maul befindet?

Dass Pferd und Mensch sensibel im Maul sind, liegt auf der Hand. Weil die Eisenstange allerdings beim Pferd mehr auf die Zunge wirkt, passiert es nicht selten, dass bei starker Einwirkung die Zunge blau anläuft und taub wird. Wenn das Pferd dann die blaue Zunge heraus hängen lässt, sprechen Reiter, auch wieder verharmlosend, vom Zungenfehler. In Wirklichkeit ist es ein vorsätzlicher grober Verstoß gegen das Tierschutzgesetz und müsste dementsprechend geahndet werden.

Das Gefühl im Maul von Pferd und Mensch ist vergleichbar, wenn man dem Pferd Gefühle zugesteht. Dazu hilft vielleicht auch ein Blick auf den menschlichen Alltag mit der Frage, wo und wann wir im Leben Erfahrungen mit einem Fremdkörper im Maul machen. in Befragungen sind mir dazu einige z. T. sehr amüsante Geschichten zu Ohren gekommen.

1. Nahrungsaufnahme

 Es beginnt, wenn das Kind lernen muss, mit Löffel und danach mit Messer und Gabel zu essen. Die Eltern (meist Mütter) haben mir berichtet, dass eigentlich alle Kinder sich mehr oder weniger dagegen wehren am Anfang. auch später noch essen Kinder und sogar Erwachsene lieber aus der Hand, z. B. die Pizza, die Bratwurst oder den Döner.

2. Zahnarzt

 Ein sehr unangenehmes Erlebnis haben wir, wenn der Doktor kommt zum A-Sagen und mit einem Stab die Zunge fixiert. Noch schlimmer ist es beim Zahnarzt, wenn die Milchzähne gezogen werden. Viele, meist Mädchen, machen eine äußerst unangenehme Erfahrung mit einer Spange im Mund. Mein Zahnarzt, der seine Tochter regelmäßig beim Reiten begleitet, teilte mir mit, dass er glaubt, dass die Pferde bei der Handhabung des Gebisses, die er tagtäglich in der Reithalle sieht, erleben müssen, wie ihnen ein Zahn ohne Betäubung gezogen wird. Diesen Spruch hört man gelegentlich auch real auf dem Turnier- oder Reitplatz: „Jetzt zieh dem Gaul mal den Zahn!“

3. Kaugummi

 Wir kauen Kaugummi, ein weiches Material –  nicht wie ein Eisenstange – , aber irgendwann schmeckt es nicht mehr, weil die Geschmacksstoffe aufgebraucht sind, und wir kauen weiter. Irgendwann verspannen sich die Kaumuskeln, dann spucken wir es aus.

Das Pferd würde mit seiner sensiblen Wahrnehmung jede Eisenstange sofort ausspucken, wenn es könnte.

Oft wird diese Eisenstange sogar noch mit einem Nasenriemen fixiert! – Das ist Folter!

4. Küssen

Und jetzt kommt ein amüsantes Thema: Als ich 14 Jahre alt war, wollte ich mein erste Freundin küssen. Sie wollte aber nicht. Als ich ihr daraufhin drohte, unsere Beziehung zu beenden, die vorher nur in wohlwollenden Blicken und Händchenhalten bestand, stürmte sie plötzlich auf mich zu, umarmte mich sehr stark und drückte ihren Mund auf meinen, wobei sie ihre Zunge sehr intensiv in meinen Mund stieß. Ich schreckte zurück und beendete daraufhin wirklich die Beziehung, weil ich das wie einen Überfall empfand.

Es hieß damals: „Küssen muss man lernen.“ – Ich weiß nicht, ob das junge Leute heute noch so sehen.

5. Ergänzung zum Küssen

Eine mir bekannte Psychotherapeutin und eine Zahnärztin berichten, dass sie  als erotisch am Kuss immer fanden und noch finden den weichen Kontakt mit den Lippen. Die fremde Zunge im Maul finden sie eher als Fremdkörper und unerotisch. Diese und andere sexuell-erotische Praktiken sollen damit nicht pauschal abgewertet werden. Was aber nicht geht, ist, wenn ein Tierarzt behauptet, die Rollkur erzeuge beim Pferd ein Lustgefühl, vergleichbar mit dem menschlichen Orgasmus (Das ist nachweislich geschehen!).

Die Rollkur ist bekanntlich eine Methode, mit der das Pferd gefügig gemacht werden soll, indem mit Krafteinwirkung des Reiters oder mit Hilfszügeln, die am Gebiss befestigt sind, der Kopf des Pferdes in die Hyperflexion gezogen wird.

Teddie Ziegler mit Jazz: Pferde nähern sich nur vorsichtig an, Menschen fallen oft mit der Tür ins Haus (April 2018). Copyright Foto: Mark Mottershead

6. Die Annäherung

Pferde, die sich nicht kennen, nähern sich sehr vorsichtig an über Beschnuppern ohne Körperkontakt.  Wenn der Geruch stimmt und auch andere Signale kommen, die Vertrauen signalisieren, nehmen sie Kontakt auf, indem sie sich gegenseitig in der Mähne zupfen.

Ich habe auch schon beobachtet, dass ein Pferd das andere leckt, aber die Zunge in das Maul des anderen zu strecken , konnte ich noch nie beobachten. Ich weiß nur, dass es sehr schwierig ist und viel Vertrauen von Seiten des Pferdes erfordert zu zulassen, wenn man ihm ins Maul greift, eine wichtige Vertrauensübung, die die meisten Reiter nicht beherrschen und dem Tierarzt überlassen, vergleichbar mit dem Hochheben der Hufe, das man dem Hufschmied überlässt.  Als Tierarzt oder Hufbearbeiter würde ich solche Pferde nicht behandeln oder ein doppeltes Honorar fordern.

Hier ist ein Video zum Thema „Kennenlernen unter Pferden„, leider nur in Englisch, aber wer die Pferdesprache versteht, weiß, was hier geschieht. Dazu gehört auch Geduld, die leider bei vielen Pferdehaltern fehlt.

7. Ergänzungen und Bemerkungen durch „Pferdefreunde“

7.1 Edwin Witwer schrieb aus der Toscana: „Die meisten Reiter denken, dass die Kontrolle des Pferdes im Maul passiert. Dem ist aber nicht so … die wirkliche Kontrolle kommt durch die Hinterhand. Wenn ich die Hinterhand kontrollieren kann, sprich seitlich untertreten lassen kann und sich das Pferd willig lateral biegt, dann habe ich weit mehr Kontrolle über die Vorwärtsenergie, als wenn ich nur mit den Zügeln am Kopf zerre.“

7.2 Dr. Hiltrud Strasser schrieb aus der Schwäbischen Alb: „Das Pferd würde mit seiner sensiblen Wahrnehmung jede Eisenstange sofort ausspucken, wenn es könnte. Es versucht das durch die einzige verbleibende Möglichkeit, die reflektorisch funktioniert, das Speicheln. Es ist eindeutig ein Ausscheidungsmechanismus, um einen Fremdkörper aus dem Maul zu bekommen, in diesem Falle der Gebisszäumung, also der Eisenstange, starr oder gebrochen.“

7.3 Judith Biedermann (MA Sport) schrieb aus dem Schwarzwald: „Ich hatte als Jugendliche eine Außenbogenzahnspange (Headgear), die ich sehr gehasst habe. Nicht nur die Schmerzen durch den permanenten (auch wenn nur leichten) Zug und das Metall in meinem Mund waren sehr unangenehm für mich, sondern auch der ständige Speichelfluss und die Unfähigkeit den Mund komplett zu schließen habe ich in sehr schlechter Erinnerung. Ich war sehr froh, als ich das blöde Ding endlich los war. Wenn ich ein Pferd mit Gebiss im Maul sehe, erinnert mich das an meine Zahnspangensituation von damals und ich empfinde Mitleid mit dem Tier. Zum Glück durfte ich die Zahnspange zum Sport rausnehmen, ich könnte mir überhaupt nicht vorstellen damit sportliche Höchstleistungen zu erbringen, das Pferd muss diese damit leisten.“

7.4 Bernd Osterhammel schrieb aus Nümbrecht: „Ich sage den Menschen immer sie sollen mal eine Kugelschreiber in den Mund nehmen und sich vorstellen an beiden Enden sind Zügel und irgendjemand bekommt die in die Hand und darf mal lenken und bremsen üben. und er selber darf kein Wort sagen und nix machen, egal was der am Ende der Zügel macht und wie gestresst der ist oder wie wütend der ist usw…

Ich sage immer Gnade Gott den Pferden, wenn da jemand mit Ehrgeiz, Angst, Wut, Profilierungssucht usw. oben drauf sitzt und hat Gewalt über Sporen und Trense, dann landen die ganzen Emotionen im oder am Pferd, dass leider keinen Schmerzlaut besitzt.“

7.5 Thomas Günther schrieb uns aus Fuldatal: „Ja, generell wäre es eine tolle Sache, wenn man das gebisslose bzw. zäumungsfreie Reiten in den Vordergrund rücken könnte. Ist nach und nach bestimmt möglich. Man sollte es allerdings, denke ich auch langsam umstellen, da man sonnst sowieso nur auf Widerstand und Unverständnis und damit auf Ablehnung stößt.“

7.6 Vaclav Vydra schickte uns aus Tschechien ein wunderschönes Bild als Kommentar.

Die wahre Harmonie ist nur ohne Gebiss, ohne Sattel und ohne Eisen am Huf möglich, Melnik, 2017, © Vaclav Vydra, Foto: Michaela Baresowa

Zum Schluss ein Video mit leider nur 140 Tausend Aufrufen bei Youtube. Gebissreiter schalten bisweilen ab, weil sie sich nicht mit dem Thema befassen wollen.

Um Missverstehen vorzubeugen – Es geht hier nicht um den banalen Satz: „Das Gebiss ist nur so scharf wie die Hand des Reiters“ sondern um die Tatsache, dass das Gebiss ein Fremdkörper ist in der sensibelsten Körperöffnung des Pferdes.

Es gilt: „Je schärfer die Hilfsmittel sind, desto größer ist Gefahr des Missbrauchs.“

Anmerkung:

Der Beitrag von Bernd Paschel wurde im WELTEXPRESS am 2.2.2020 erstveröffentlicht.