Balancieren und feine Hilfen – Ein Euphemismus im Reitsport?

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Schlafende auf dem Rücken eines Pferdes. Ist das Balancieren? - Nein, das Pferd sollte allerdings innerlich gut in Balance sein und nicht losspringen, wenn ein Hase den Weg kreuzt. 2014 ©Bernd Paschel

Frankfurt am Main, Deutschland (Salon Philosophique). Balancieren ist eine Bewegungsgrundform, die jedes Kind kennt. In seiner Lebenswelt kommt nach dem Krabbeln, Gehen und Laufen das Klettern und Balancieren.

Bewegungsprobleme entstehen in der Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Bewegungsumwelt oder dessen Erforschung.

Auf der einen Seite ist das kompetente Kind in seiner individuellen Befindlichkeit, das beim Gehen und Laufen schon gewisse Erfahrungen mit dem Gleichgewicht gemacht hat.

Auf der anderen Seite hat die Bewegungsumwelt spezifische Eigenschaften wie schmal, glatt, federnd, nachgiebig, wackelig u.a.

Das Sammeln von Bewegungserfahrungen geschieht leider nicht mehr so häufig wie früher, weil der PC bekanntlich das Bewegungsverhalten des Kindes, besonders nach dem Kindergarten, nachteilig verändert hat.

Wo kommt ein Balancierproblem beim Reiten vor, das es zu lösen gilt?

Die meisten Sportstudentinnen in meinen Reitkursen habe ich gefragt, ob sie beim Reiten ein Balancierproblem hätten. Nicht eine einzige hat das bejaht mit der Ausnahme einer Voltigiererin.

Von vielen erfolgreichen Reiterinnen kennt man die Aussage, dass sie als kleines Kind auf einem Shetty saßen und das als wesentlich für Ihre reiterliche Entwicklung einschätzen.  Nie war die Rede von Balancieren. Erst später lernt die Reiterin, dass Reiten gefährlich ist und Angst kommt ins Spiel.

Das Risiko zu fallen gehört beim Balancieren zum Motiv (das Spiel mit der Leichtigkeit und Schwere), nicht beim Reiten.

Ein Experiment aus dem Unterricht im Lehramt Haupt und Realschule mit Sportstudierenden möge dazu etwas Klarheit bringen:

Eine Turnbank (Maße: (LxBxH, 450x34x35 cm) sollte überquert werden, die in unterschiedlichen Höhen sicher an zwei Barrenholmen befestigt war.

Die Bank am Boden wurde von 100% der Teilnehmer nicht als Balancierproblem eingeschätzt im Gegensatz zu umgedrehten Bank, wo ein ca. 10cm breiter Steg entsteht. Ab ca. 1 m Höhe wurde das Gehen vereinzelt als Balancierproblem gesehen. Bei der Maximalhöhe von ca. 2 m waren 22 von 27 Probanden der Meinung , dass ein Balancierproblem bestehe. Bei dieser Höhe waren 2 Probanden, die den Reitersitz vorzogen, obwohl sie mit Weichböden am Boden gut abgesichert waren. Zwei Probanden bewältigten das Problem sogar mit Laufen und einem abschließenden Niedersprung aus 2 m auf die Weichmatte.

Bei einer Gruppengröße von 27 Sportstudentinnen ohne Vergleichsgruppe ist eine solche Untersuchung natürlich nicht wissenschaftlich valide, aber es geht dabei nicht um empirische Wissenschaft, sondern um das Verständnis und die Abgrenzung der motorischen Bewegungsprobleme Gehen/Laufen zum Balancieren.

Nachdem alle Probanden bedingt durch ein Gruppengespräch, sich die Angst zugestehen konnten, reduzierte sich auch in ihrer Wahrnehmung das Balancierproblem zu einem Problem des Gehens/Laufens in große Höhe, also kein motorisches, sondern ein psychisches Problem lag vor. Zusammen genommen kann es auch psychomotorisches Problem bezeichnet werden.

In einer späteren Stunde mit dem Thema Parcour bewältigten übrigens fast alle Teilnehmer eine vergleichbare Station im Lauf, nachdem sie methodisch zum Sprung in die Tiefe geführt worden waren.

Beim Reiten ist Angst einzugestehen zuweilen ein Tabu, selbst wenn das einen realen Hintergrund hat, denn welcher Reiter ist noch nie vom Pferd gefallen. Selten liegt aus meiner Erfahrung eine psychisch bedingte Höhenangst vor oder eine organische Störung des Gleichgewichtsorganes im Ohr.

Nebenbei ist mir aufgefallen, dass viele kleine Reiterinnen aus Image-Gründen viel zu große Pferde haben, wodurch die subjektive Empfindung des Risikos sicherlich nicht vermindert wird.

Jean François Pignon balanciert auf Pferden. Das setzt für den Reiter nicht nur ein gutes Gleichgewicht voraus, sondern auch eine Beziehung, die auf intensivem Vertrauen zwischen Reiter und Pferd basiert. BU: Bernd Paschel

Wirkliche Balancierprobleme beim Reiten sind meist ungewollt

  1. Beim Voltigieren

Hier treffen alle oben beschriebenen Merkmale für Balancieren zu. (vergleichbar mit dem Kunstradfahren, Einrad oder der Akrobatik)

  1. Beim Therapeutischen Reiten

Wie oben beschrieben liegt das Problem in der Befindlichkeit des Reiters (psychomotorische Störungen oder auch Wahrnehmungsdefizite). Weniger auffällige psychomotorische Störungen findet man, nachweislich mehr als vermutet, unter den sog. normalen Menschen und natürlich auch altersbedingt. Körperzentrierte Methoden wie Feldenkrais, Alexander-Technik u. ä. , die im Reiten immer mehr Zuspruch finden, sind für alle Menschen unabhängig vom Reiten sinnvoll und gut, da es um die innere Balance geht. Übungen auf dem Pferd haben allerdings den Nachteil, dass die Gefahr besteht, die Aufmerksamkeit, die auf den  eigenen Körper zentriert sein sollte, auf das Pferd verlagert wird.

  1. Beim Reiten im Gelände

Das Pferd erschrickt und macht eine unerwartete Bewegung. Auch ein Stolpern des Pferdes kann dazu führen, dass der Reiter sein Gleichgewicht verliert, obwohl die Pferde aufgrund ihrer Stabilität durch vier Stützen sich meist wieder hochrappeln trotz des Reitergewichtes, es sei denn der Reiter zieht vor Schreck heftig am Zügel und bestraft es nicht nur für eine gute Tat, sondern stört das Pferd zusätzlich in seiner Balance (vergleichbar mit Motocross oder Radcross, wo man das Gerät allerdings nicht bestrafen kann und es sich nicht von allein wieder aufrichtet).

  1. Wenn ein Pferd sich widersetzt

Es buckelt oder führt ähnliche Bewegungen, die den Reiter aus dem Gleichgewicht bringen können. (Vergleichbar mit dem Skifahren auf einer Buckelpiste)

  1. Beim Springreiten

Der Reiter verpasst den Absprung des Pferdes oder das Pferd entscheidet sich überraschend zu bremsen oder auszuweichen.

  1. Rodeo u.ä.

Es gibt einige Situationen, in denen der Reiter in eine Balanciersituation gerät, aber am wenigsten beim Dressurreiten, obwohl da am meisten vom Balancieren in der Bewegung gesprochen wird.

Woher kommt dieser Widerspruch?

Oberstes Ziel des Dressurreitens ist die „Harmonie von Reiter und Pferd“, eine Utopie, die sich im Bild des Centaurus ausdrückt, wo Reiter und Pferd in einem Wesen verschmelzen.

Die Realität des Dressurreitens ist aber das Gegenteil.

Es gilt, das „Wilde Tier“ Pferd zu kontrollieren, was letztlich nicht gelingt, wie man es selbst auf  höchstem Niveau ständig erlebt.

Die Illusion von Harmonie und die verdrängte Angst vor Kontrollverlust führen unter Umständen zu dem Glauben, Balance sei der Schlüssel, obwohl das Balancierproblem nur ein Randproblem in der Dressur ist, zumindest, wie heute geritten wird.

In Sportarten wie Klettern, Turnen, Rhönrad- und Einradfahren und den Zweikampfsportarten hat das Balancieren einen deutlich höheren Stellenwert. Selbst beim Radfahren, Skifahren und Motocross besteht nur am Anfang ein Balancierproblem, das mit der Aufnahme von Geschwindigkeit zum Steuerproblem wird.

Wie steht es um die Balance des Pferdes?

Grundsätzlich steht das Pferd auf vier Beinen sicherer als der Mensch auf zwei Beinen.

Wie oben beschrieben, kann das Pferd durch den Reiter und/oder die Beschaffenheit der Umwelt aus der Balance gebracht werden.

Wie ein schwerer Rucksack beim Skifahren kann der Reiter die Balance des Pferdes beim Reiten stören. Wenn der Rucksack ausgewogen ist, geschmeidig anliegt mit Bauchgurt und nicht zu schwer, erlernt der gute Skifahrer rel. schnell, seine gewohnten Schwünge mit diesem Handicap auszuführen.

Das ist auch beim Pferd so, wenn es in freier Bewegung und im Spiel mit Kameraden auf der Koppel seine konditionellen und koordinativen Fähigkeiten entwickeln konnte. Es lernt schnell von allein den geschmeidig sitzenden Reiter, der gut ausbalanciert ist, zu tragen. Boxenpferde haben da einen großen Nachteil. Wenn ein nicht ausbalancierter Reiter auf ein nicht ausbalanciertes Boxenpferd trifft, kommt es in der Regel zur Katastrophe.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Reiter und Rucksack liegt allerdings auf der Hand. Der Rucksack ist von Natur aus passiv.

Der Dressurreiter verhindert üblicherweise mit den Zügeln die Kopfbewegungen des Pferdes und stört es in seiner Balance. Danach kämpft er dann um so härter mit anderen Hilfen im Glauben, es diene dem Gleichgewicht des Pferdes, obwohl das gesunde Pferd mit Auslauf schnell lernt, sich auch ohne Kopfbewegung auszubalancieren.

Ein elementarer Grundsatz von guten Reitlehrern ist anscheinend in Vergessenheit geraten: „Störe dein Pferd so wenig wie möglich in seinem natürlichen Bewegungsablauf.“

Was sehen wir tagtäglich?

Reiter legen ihre ganze Kraft in das Kontrollieren des Pferdes, anstatt sich zuerst einmal einen geschmeidigen und zügelunabhängigen Sitz anzueignen.

Es geht fast ausschließlich darum, das Pferd zu steuern und in die „richtige“ äußere Form zu bringen, die Punkte auf dem Turnier bringen würde, selbst bei Reitern, die keine Turniere besuchen, sondern Isabell Werth im Fernsehen bewundern wegen ihres Erfolges.

Warum wird nicht ausgesprochen, dass fast alle „Reiterlichen Hilfen“ Störungen für das Pferd sind. Störanfällig ist das Pferd besonders im Schritt laut Prof. Heinz Meyer (Quelle: Heuschmann-DVD), einem der wenigen seriösen Wissenschaftler im Reitsport, der leider in der Hohen Dressur kaum noch Beachtung findet.

Schon das Reitergewicht allein ist eine Störung für das Pferd, wie auch der Fremdkörper Gebiss im Maul oder Hilfszügel, die das Pferd unnachgiebig bestrafen, wenn es natürlich gehen will.

Euphemismus ist der Fachausdruck für derartige Beschönigungen.

Im Grunde weiß jeder etwas reflektierte Reiter, dass „Reiterliche Hilfen“ für das Pferd überwiegend Störungen sind, gegen welche das Pferd sich aus seiner Sicht mit Recht widersetzt mit dem Ergebnis, dass wirksamere Störungen erfolgen, wo Gewalt und sogar Folter, wie die Rollkur, auf der Tagesordnung sind.

Hilfen sind es für den Reiter, weil er glaubt, nur damit seine Vorstellungen von Haltung und Bewegung des Pferdes durchsetzen zu können.

Hilfen im Sinne von Schutz nennt man auch das Eisen an den Hufen, ein Euphemismus nicht nur, weil der gesundheitliche Schaden der Eisen mittlerweile hinlänglich bekannt ist, sondern weil auch das Bewegungsgefühl des Pferdes eingeschränkt wird. Wie fühlig Pferde an den Hufen sind, erfährt jeder Reiter, der sein Pferd nach jahrelangem Beschlag barhufig bewegt und erfahren muss, dass es Monate dauern kann, bis das Pferd seine natürliche Fühligkeit wiedererlangt.

Der falsche Begriff erzeugt bei der Mehrzahl der Reiter das Bewusstsein, dass sie dem Pferd etwas Gutes tun. Gutes tun sie nur sich selbst.

Um allen Spekulationen vorzubeugen: Hier geht es nicht darum, sog. Hilfen abzuschaffen, sondern ihnen den richtigen Namen zu geben und um die Scheinheiligkeit von falschen Begriffen, die unser Handeln bestimmen.

Wenn die Tierquälerei zur Normalität wird, trifft leider der Spruch von Adorno zu: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

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Kommentar zum Thema von Veterinärmedizinerin und Jagdreiterin Frau Dr. Hiltrud Strasser: „Alle Pferdefreunde kennen die herzigen Romane über Jugendliche, die Freundschaft mit einem wilden oder angeblich unreitbarem Pferd schließen und es so gut reiten, dass sie Turniere gewinnen oder irgendwelche großartigen Sachen auf dem Pferd vollbringen. Niemals war die Rede davon, dass diese Jugendlichen Reiter sich Gedanken um Balance oder Gymnastizieren oder so was gemacht haben. Ich halte das auch wegen meiner eigenen Erfahrung mit meinen vier Kindern, die das Reiten durch selber Ausprobieren gelernt haben – mit und ohne Sattel und sonstiges Zubehör – für überflüssigen, wichtigtuerischen Kokolores. Jedes Pferd geht von alleine in die bequemste Haltung für seine eigene Balance – wenn man es nicht drangsaliert.

Anmerkung: Der Beitrag wurde erstveröffentlicht bei Weltexpress.de am 9. Sept. 2017