Vom Ödipuskomplex zum Geschwisterkomplex – Vom autoritären, hierarchischen Regime zur demokratischen Regierung

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Quelle: Pixabay

Frankfurt am Main, Deutschland (Salon Philosophique). Der Geschwisterkomplex ist eine bisher wenig angedachte und erforschte Beziehungskonstellation, die immens wichtig ist, da von ihr her überwiegend die Gleichheit und Gerechtigkeit bestimmt sind. Im Gegensatz zur ödipalen Beziehung, dem Ödipuskomplex, sind die Beziehungen unter den Geschwistern, also eine horizontale oder laterale Beziehung, wenig erforscht und wenig in die psychoanalytische Theorie integriert. Der Ödipuskomplex, die Beziehung von den Eltern zu den Kindern, also eine vertikale Beziehung, hat Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. In dieser vertikalen Beziehung kann es keine Gleichheit von den Eltern zu ihren Kindern geben, da der Wissens- und Erfahrungsvorsprung der Eltern zu groß ist, und die Eltern für ihre Kinder gesetzmäßig, naturgemäß Vorbilder und ihre Götter sind. Ein Komplex ist die Gesamtheit der unbewussten, vor- und bewussten Fantasien aufgrund von früheren Erfahrungen und der daraus resultierenden Reaktionen und Handlungen. Der Begriff „Geschwisterkomplex“ stammt von René Kaës (2008).

Die Geschwisterbeziehung ist im günstigen Falle eine lebensbegleitende Beziehung von großer Vertrautheit. In der Kindheit sind Geschwister Spielgefährten, Streitpartner, Konkurrenten, Identifikationsobjekte und mögliche Verbündete in der Auseinandersetzung mit den Erwachsenen. Mit ihren Geschwistern verbringen Kinder mehr Zeit als mit ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen. Dieser horizontale oder laterale Beziehungsdimension findet ihre Fortsetzung in der Beziehung zu Gleichaltrigen im Kindergarten, in der Schule und in Gruppen jeglicher Art. Geschwister sind – soweit sie in der frühen Kindheit bereits vorhanden sind neben den Eltern wichtige Primärobjekte mit einer für das Kind horizontalen Triangulierungsfunktion. Die Bedeutung dieser Beziehungsebene bzw. dieses Beziehungsdreiecks für die Entwicklung von Emotion und Emotionsregulierung, für die Mentalisierungsfähigkeit und die Identitätsbildung ist erst ansatzweise untersucht und verstanden. Das gilt ebenso für Einzelkinder, deren Fantasien mit Wünschen nach oder Ängsten vor Geschwistern beschäftigt sind und sich fantasierte Geschwister erschaffen und spätestens im Kindergarten auch konkret mit geschwisterähnlichen Beziehungsstrukturen konfrontiert sind (weitgehend entnommen aus dem Vorwort der Psyche vom September/Oktober 2017 von Susanne Böll-Henschker).

Warum wird an die Geschwisterbeziehung so wenig gedacht? Eine Erklärung ist zu finden in der Kindheit der Hauptprotagonisten und Meinungsbildner der Psychoanalyse, Sigmund Freud, Melanie Klein und Anna Freud, in der Konkurrenz, Eifersucht und Neid um die Liebe der Eltern eine Hauptrolle spielen und deswegen wurde diese wichtige Beziehung weit gehend verdrängt – ein schönes Beispiel, wie die Kindheit die Wissenschaft prägt, sogar bei Personen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Verdrängung und daraus resultierenden Konflikten und Krankheiten bewusst und rückgängig zu machen. Ich selbst habe mich bisher auch meistens in meinen Artikeln mit den Beziehungen der Kinder zu den Eltern beschäftigt und die Beziehung der Geschwister untereinander weitgehend außer acht gelassen.

Ein schönes Beispiel für die stützende und haltgebende Funktion von Geschwistern sind die Bulldog-Banks-Kinder, deutsch-jüdische Waisen, deren Eltern kurz nach ihrer Geburt in KZ’s deportiert und ermordet worden waren. Das erste Lebensjahr dieser Kinder war verschieden, bis sie alle im Alter zwischen sechs und zwölf Monaten im Konzentrationslager Theresienstadt ankamen und dort in der Abteilung für mutterlose Kinder von Häftlingen, die selbst KZ Häftlinge waren, versorgt wurden.1945 mit der Befreiung des Lagers kamen sie in das für sie neu eingerichtete Kinderheim Bulldog-Banks in England. Sie zeigten eine große Wärme und Offenheit füreinander, waren aufeinander bezogen und wurden unruhig, sobald sie getrennt wurden. Innerhalb der Geschwistergruppe haben sie ein positives Sozialverhalten entwickelt. Neid, Rivalität und Konkurrenzverhalten gab es bei ihnen nicht. Sie hatten eine so enge Beziehung zueinander entwickelt, wie sie sonst gegenüber einer warmherzigen Mutter bestanden hätte. Die Besonderheit dieser Gruppe wird in dem Text von Anna Freud zu einem Kontrast mit der „normalen“ Entwicklung der Geschwisterbeziehung, die laut ihrer Meinung durch Rivalität, Neid und Eifersucht gekennzeichnet ist. Also emotional zusammen zu halten, zu kooperieren und sich zur vertragen, ist er eine Ausnahme laut Lehrmeinung der Psychoanalyse.

Auch ist eine Erfahrung, dass Kinder von den Geschwistern und ihrer Fortsetzung von den Gleichaltrigen viel schneller und viel mehr lernen als von ihren Eltern. Ich kann dazu eigene Erfahrungen beisteuern: Als wir als Familie im Krieg in Baden-Württemberg auf dem platten Lande evakuiert waren, lernte ich im Alter von 2-4 Jahren von den anderen Kindern schwäbisch zu sprechen, obwohl meine Eltern mit mir hochdeutsch sprachen. Von 4-9 Jahren wohnten wir in Frankfurt, – Dazu eine kleine Anekdote: ich war mit meiner Großtante, eine gepflegten Dame, im Garten und sagte plötzlich „Oma I muss scheiße“ die Oma fragte “ Kind, was musst du?“, ich wiederholte es. Dann war die Omatante sehr entsetzt und ich sagte „Oma, ei Scheiße muss I“. Anschließend beschwerte sich bei meinen Eltern über die Ausdrucksweise des Kindes. Und ich eignete mir den Frankfurter Dialekt an. Das führte unter anderem dazu, dass ich in jedem zweiten Satz „gell“ sagte. In Münster, wo wir von 9-14 Jahren wohnten, wurde ich von den anderen Kindern auf der Straße aufgezogen. “Immer sagst du Geld, bist du so geldgierig“, hieß es. Anschließend gewöhnte ich mir den westfälischen Dialekt an. Ab 14 Jahren in Frankfurt babbelte ich wieder frankfurterisch.

In der Oberstufe des Gymnasiums war ich in Mathe auf einer schwachen 4, da ich die Erklärungen des Mathelehrers nicht verstand. Dann befragte ich in meiner Not unseren Klassenprimus, und dieser erklärte mir die Aufgaben verständlich innerhalb von wenigen Sätzen. Während des Abiturs erklärte ich mir am Vorabend der Mathearbeit den ganzen Oberstufenstoff selbst und hatte den Eindruck, dass ich ihn jetzt verstanden hatte. Tatsächlich schrieb ich am nächsten Tag im Abitur die beste Arbeit der gesamten Oberstufe. Ich hatte mir sein Erklärungsmodell angeeignet und es verinnerlicht. Durch diese Erfahrung bin ich der Meinung, dass das alte Schulmodell vertikal vom Lehrer zu den Schülern noch mehr zu den Schülern untereinander, also horizontal, erweitert werden müsste. Da steckt ein weitaus höheres Potenzial der Schulerfahrung dahinter. Ich nehme an, dass die Mitschüler durch die Nähe zum Schulstoff und zur Lernerfahrung die Schwierigkeiten erkennen, wesentlich besser in der Lage sind, einem Mitschüler den Schulstoff beizubringen als ein Lehrer, der doch recht abgehoben, fern von seinem eigenen Erfahrungsschatz, jetzt auf einem höheren Bildungsstand, ohne Kenntnis von den Schwierigkeiten im Innenleben seiner Schüler ist. Meinem Mathelehrer fehlte das Einfühlungsvermögen in die Schwierigkeiten eines Schülers, und das gilt für viele Eltern und Lehrer gegenüber ihren Kindern.

Also, die Meinungsbildner der Psychoanalyse hielten es für völlig normal, dass Rivalität, Eifersucht und Neid unter den Geschwistern herrscht, analog zum Ödipuskomplex, der gekennzeichnet ist von Vatermord und Inzest. Sie haben ja sich auch interessengeleitet der Therapie verschrieben. Deswegen wird auch von Geschwisterkomplex gesprochen, da in einem Komplex das Konflikthafte im Vordergrund steht. Das war ja auch schon in der biblischen Schöpfungsgeschichte so, dem urchristlichen Schöpfungsmythos. Die Vergangenheit Gottes, des Vaters war im Dunkeln, sozusagen verleugnet, und die Gebote und Verbote tauchten wieder im Apfelessen Evas auf – wie die Untaten der Vorfahren im Schloßgespenst wieder auftauchen – natürlich verführt vom Bösen, dem Teufel, das vom Baum der Erkenntnis und frevelhafte Gottgleichheit und die Erbsünde für die Menschheit bedeutete, eine Parabel für die transgenerationell traumatisierte Familie. Das bedeutet, der eigene Wille und die Erkenntnis des Kindes sind frevelhaft und bedeuten, daß sich das Kind auf die gleiche Stufe wie die Eltern stellt, das Kind also den Erfahrungsvorsprung der Eltern negiert. So war der Erziehungsstil des 19. Jahrhunderts, gepflegt im 3. Reich, der Wille des Kindes ist um jeden Preis zu bekämpfen. Gemeint ist damit der Trotz. Die unterdrückten Aggressionen mußten nach außen umgeleitet werden, und die Juden waren die Sündenböcke. In Wirklichkeit bedeutet das Trauma der Eltern und der gesamten Familie die Erbsünde, weil es alle folgenden Generationen beeinflusst.

Das Urbild des Geschwisterkomplexes ist die Geschichte von Kain und Abel. Gott verteilte seine Anerkennung dergestalt, dass er Abel anerkannte und Kain entwertete und dieser sein Bruder ermordete. Eigentlich dient dieses Gleichnis der Schuldübernahme zur Abwehr der Scham. Eigentlich hätte sich Gott schämen müssen, dass er es nötig hatte, seine Gaben und Achtung so ungleich zu verteilen, Kain und Abel, dass sie Gottes Gaben so ohne weiteres annahmen, sich gegeneinander ausspielen ließen und aufeinander losgingen.

Aber was hat nun der Geschwisterkomplex mit der Demokratie zu tun? Die Psychoanalyse als Therapie und zum Gesellschaftsmodell und der -erklärung kann zur Überwindung beitragen. Aber dazu ist die Psychoanalyse, zumindest der Vergangenheit, allzu sehr, vor allem in der Ausbildung, hierarchisch gegliedert. Zumindest wenn der Ödipuskomplex und der Todestrieb ihre Grundlage bilden. Komplexhafte Strukturen sind alles andere als demokratisch, sie sind streng autoritär, vertikal und hierarchisch gegliedert. Das Vorbild könnte die Überwindung des Geschwisterkomplexes sein, etwa nach dem Vorbild der Bulldog-Banks-Kinder. Natürlich ist anzunehmen, dass die Bezugspersonen nicht so ohne waren und die Kinder sich umso mehr solidarisierten, sozusagen gegen einen Außenfeind, wie das häufig der Fall ist. Ihre Unruhe sprach dafür, wenn sie mal getrennt waren. Sie hatten nicht die haltgebende Funktion verinnnerlicht und waren auf körperliche Anwesenheit angewiesen. Aber gesamtgesellschaftlich kann es trotzdem als Vorbild dienen. Dazu müsste allerdings Gleichheit und Gerechtigkeit bestehen. Das ist leichter gesagt gesagt als getan in einer Welt, in der Kriege und Profitgier vorherrschend sind im Gegensatz zu Anerkennung, Empathie und Solidarisierung. Deswegen gibt es so viel autoritäre Regimes im Gegensatz zu Demokratien, wo die Stimme jedes Einzelnen als gleichwertig geachtet wird. Dazu könnte eine gelungene Geschwisterbeziehung beitragen.