Trauma und Alltag in biblischen Erlösungsmythen,  Neues Testament

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© Münzenberg Medien, Foto: Stefan Pribnow

Frankfurt am Main, Deutschland (Salon Philosophique). Was kann uns, den angeblich aufgeklärten Menschen, noch heute die Bibel sagen?

Die Heilige Familie

Im Neuen Testament sind die biblischen Erlösungsmythen beschrieben. Die in der biblischen Geschichte des Alten Testamentes durchgängige Traumatisierung lechzt nach einer Erlösung und Befreiung. Einer der Erlösungsmythen ist die Heilige Familie, ein anderer und zentraler, der Kern der christlichen Religion, der der Kreuzigung und Selbstaufopferung des Menschgottes zur Erlösung der Menschheit.

In der Heiligen Familie, salopp, ketzerisch und karikierend ausgedrückt, ist
– der Sohn der Gott und von beiden Eltern favorisiert,
– die Mutter jungfräulich, an die kein Mann ran darf, eine Tugend, vom Heiligen Geist befruchtet,
– der Vater der Trottel, der das Ganze zu dulden, unterstützen und finanzieren hat,
– und ein Mädchen gibt es erst gar nicht als Ausdruck der Diskriminierung von Frauen, nicht nur in fremden Kulturen.

Die Heilige Familie ist das Ideal- und Gegenbild, weil es in vielen traumatisierten Familien gegenteilig zugeht. Die Väter schlachten ihre Söhne, weil sie sie als Rivalen fürchten und sie von den Müttern idealisiert und heroisiert werden, die Frauen sind alles andere als jungfräulich, die penisneidischen Töchter (laut Freud) und Frauen müssen sich als Benachteiligte und Unterprivilegierte als Mutter Gottes in Szene setzen und die hochgelobten Söhne müssen ihren Absturz fürchten. Wenn eine Frau den Erzeuger ihres Kindes nicht preisgeben möchte, sagen manche „sie ist vom heiligen Geist befruchtet“. Es geht allerdings niemand so weit wie die apokryphen Schriften, die davon sprechen, daß die Befruchtung Mariens durch den Heiligen Geist durch das linke Ohr geschah.

In unserem Kulturkreis wird die heilige Familie und der Mutterkult vor allem zu Weihnachten, Muttertag und Mutters Geburtstag gefeiert. Die Mutter ist der Kern der Heiligen Familie und ihre Aufgabe ist es, diese Art der Familie zusammen zu halten. Da die Heilige Familie den Idealtyp auf gegenteiligen Hintergrund darstellt und deswegen der Zerfall der Familie als existentiell bedrohlich gefürchtet werden muß, häufen sich an diesen Tage die Konflikte, die dem Altar der Harmonie geopfert werden müssen. Die unterdrückten Streitigkeiten brechen an allen Ecken und Kanten hervor, wo alle nur die Harmonie wollen. Diese wird zur Pflicht und Verantwortung für alle, wodurch eine Pseudoharmonie entsteht. Diese wirft ihre Schatten nach vorne als Stimmungstief in der Erwartung des bevorstehenden, anstrengenden und gefühlsunterdrückenden Harmoniezwanges und läßt anschließend ihre Spuren zurück. Die Väter stehen oft genug nicht duldend und fördernd im Hintergrund, obwohl viele Alleinverdiener diese Rolle nach außen übernehmen. Sie gehen arbeiten, verdienen das Geld, damit ihre Frau daheim ihre Rolle als Mutter mit ihren Kindern leben kann.

Dabei haben die Männer nichts zu sagen und müssen sich als Reaktion um so diktatorischer einbringen. Ein Pfarrer, mit dem ich mich einmal über den Josef unterhielt, machte eine wegwerfende Handbewegung „ach, der Josef, schwache Figur!“. In dieser Rolle werden sie oft zum verlängerten Arm der Mütter, die von den Untaten der Kinder berichtet, und der Vater die Rolle des Bestrafenden übernimmt und sich somit bei den Kindern in Ungnade bringt, ein böses Männer- und Vaterbild und gutes Mutterbild erzeugt. Je mehr die harmonisierende Familie eine Traumatisierung darstellt, um so mehr muß das Gegenbild der harmonischen heiligen Familie gefeiert werden. Nicht umsonst wurde und wird der Mutterkult in traumatisierten Gesellschaften wie unter den Nazis – damals war der Schreber’sche Zeitgeist, der 1. Weltkrieg und die Demütigung Deutschlands im Versailler Vertrag vorausgegangen – besonders heroisiert, sodaß damals der Muttertag erfunden wurde.

Die Bibel sagt aus, daß für unsere christliche Kultur die Jungfräulichkeit, Keuschheit und Reinheit Leitbild sind. – Mir selbst fiel es wie Schuppen von den Augen, als ich in einem Roman von Manuel Garcia Marquez in einem Nebensatz von der Jungfräulichkeit in der bürgerlichen Ehe las. Ich dachte mir, nicht nur in Südamerika, sondern auch bei uns, und fing an, die Bibel wie andere Mythen (eine lange psychoanalytische Tradition) auf ihren aktuellen Gehalt zu untersuchen. – Dieser Sachverhalt wirkt sich in Ehe und Familie aus, meist latent und nicht vollbewußt. Mit eigenen Augen kann mancher Leser sicherlich aus eigener Erfahrung dies daran ablesen, daß sich viele Frauen in der Ehe, vor allem in mediteranen Ländern, aus ursprünglich erotisch attraktiven Frauen in biedere Hausmütterchen oder Matronen verwandeln, die für Sitte und Anstand sorgen. Auch in der Ehe fürchten sie noch, Flittchen oder Hure beschimpft zu werden. Dies geschieht auch noch oft genug. Im Sinne der Selbstbehauptung und -bestimmung wird die Regel der Jungfräulichkeit oft genug durchbrochen.

Nach traumatisierenden Vorerfahrungen und kulturellen Überlieferungen ist die Reinheit der Frau deswegen so wichtig, weil in Sexualität und Untreue die größten Gefahren lauern. Die Untreue kann zu Trennung und Verlust, Eifersuchtszenen und der Auflösung der Familie führen. Sexualität ruft unbestimmte Ängste und konkrete Befürchtungen vor Krankheiten und Seuchen, früher die Syphilis, heute Aids hervor. Die Frau fürchtet ihre Entwertung als Flittchen oder Nutte, der Mann, bei Frauen nicht anzukommen, zeugungsunfähig zu sein und somit als Mann minderwertig zu sein, weswegen traumatisierte Männer sich oft in biedere Ehemänner verwandeln oder die Gegenposition des frauenerobernden Machos übernehmen bzw. zwischen beiden Extremen hin und her schwanken oder im Sinne der Doppelmoral nach außen bieder.

Als Folge der Traumatisierung und Verlustes der Differenzierungen und Zwischenschattierungen entsteht für das weibliche Geschlecht eine Spaltung in die Gegenbilder der Nonne und der Hure. Bei den Huren können die Männer all das machen, wofür ihre Frauen sich zu schade und sie ihnen zu schade sind. Schließlich wollen die Männer auch anständige Frauen. Es findet eine klassische Sündenbockstrategie statt, in der in allseitiger Beteiligung die Entwertung an der Frau festgemacht wird. In manchen Kulturen, vor allem im mittleren afrikanischen Gürtel, werden die Frauen für mannstoll und sexbesessen gehalten. Deswegen werden sie zur Aufrechterhaltung ihrer ehelichen Treue und Anstand grausam beschnitten. Und die Töchter sollen es auch nicht besser haben als ihre Mütter, weswegen die Beschneidung bzw. Sexualverstümmelung überwiegend von Frauen ausgeht, während die Männer gemeinsam mit ihren Frauen bei der Kindererzeugung schwer leiden. Schließlich ist es für beide Seiten eine Tortur, bei einer beschnittenen und bleistiftdünn zugenähten Frau ein Kind zeugen zu müssen.

Die Beichte (im Katholizismus)

An der Beichte lassen sich mehrere Faktoren gut nachzeichnen. Der Beichtende muß als Voraussetzung der Beichte die Definitionen der Sünde, Gebote und Verbote, der katholischen Kirche voll übernehmen. Ansonsten wäre ja nichts zu beichten. Sich gegen Papst, Priester und Erzieher zu stellen, eigene Definitionen zu prägen, wäre ein Frevel, sozusagen frevelhafte Gottgleichheit, und eine erneute Sünde. Nur durch die Übernahme der Definitionen, die Beichte und die Buße kann der Beichtende Erlösung erhalten. Er bestätigt seine Väter in ihrer Macht und sich selbst als den unterlegenen Frevler. Seine Beziehungsfalle ist, daß er gerade durch die Beichte und Erlösung sich als Sünder brandmarkt. In diese Falle gerät vor allem der Jugendliche, der zwangläufig Selbstbefriedigung ausüben muß, und somit für den Beichtvater die Hauptexistenzberechtigung darstellt. Ohne Beichte wäre dieser oft überflüssig. Die Onanie galt noch in meiner Jugend als Todsünde, beim Tod im Zustand der Sünde ohne Beichte und Buße drohte die Hölle, aber laut moderner Sexualwissenschaft gehört die Selbstbefriedigung zur psychosexuellen Reifung.

Diesen Reifungsschritt zur Selbständigkeit und –bestimmung kann der Sünder nicht vollziehen und verbleibt im schlechten Gewissen auf der Stufe des abhängigen Kindes, der von außen auf Erlösung hoffen muß. Im Wort Gewissen steckt das Wort Wissen. Der Sünder hat also ein schlechtes Wissen. Hört er auf die Aussagen der Sexualwissenschaft, erweitert somit sein Wissen, braucht er das schlechte Gewissen nicht mehr zu haben. In einer Psychotherapie, zumindest nach meinen Vorstellungen, soll eine Erweiterung des Wissens, dadurch ein Verringerung des schlechten Gewissens, durch andere Betrachtungsweisen und Hintergrunds- und Zusammenhangserarbeitung vermittelt werden. In den Augen der orthodoxen Priester sind die sexualwissenschaftlichen Erkenntnisse sozusagen Einflüsterungen des Teufels. Eine andere Seite der Medaille ist, daß der Katholik um den Preis der Unterwerfung und Abhängigkeit immerhin noch Erlösungsmöglichkeiten hat, die ein nichtbeichtender Christ und Anhänger anderer Religionen nicht hat. Aber er hat seine Seele an den Stellvertreter Gottes verschrieben, in dem der Teufel steckt, der ihn in Schuld und Sünde verstrickt.

Anmerkung:

Die Erstveröffentlichung des Beitrag von Bernd Holstiege erfolgte im WELTEXPRESS.