Trauma und Alltag in deutschen Märchen

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Hexe aus Holz im Harz, Sankt Andreasberg, 13.08.2012. © Münzenberg Medien, Foto: Stefan Pribnow

Frankfurt am Main, Deutschland (Salon Philosophique). Es war einmal – so fangen viele deutsche Märchen an – ein Mädchen, eine junge Frau. Sie war von der bösen Stiefmutter oder einer bösen, weisen Frau hinter dicke Mauern und eine Dornenhecke verbannt, durch einen Apfel vergiftet und zum Aschenputteldasein verdammt worden. Was hat denn das mit dem heutigen Alltag zu tun? wird sich mancher Leser fragen. Schon in der Erzählung schwingt der Bezug und Geist zum Alltag mit. Deswegen sind diese Märchen auch in aller Gedächtnis, nicht nur als Kindermärchen und schöne Erzählungen. Zu allen Zeiten wurden menschliche und zwischenmenschliche Konflikte in Personen und deren Handlungen in Erzählform festgehalten. Ich halte Mythen für aktuelle, harte Realität im alltäglichen Konflikt- und Krankheitsgeschehen. Sie zeigen mir, wie sehr der Mensch über die Jahrtausende hin sich in seinen urmenschlichen Grundkonflikten treu geblieben ist. Meiner Ansicht nach spiegeln Mythen die Folgeerscheinungen und -zustände der Traumatisierung und somit der Angst und Bewältigungsstrategie vor der Bedrohung wieder.

Dornröschen           

Vorzeiten waren ein König und eine Königin, die wünschten sich ein Kind und kriegten immer keins. Da trug es sich zu, ein Frosch sprach „Dein Wunsch wird erfüllt…!“. In das heißersehnte Glück trat jedoch das Böse ein. Infolge eines Spruches einer bösen Frau, die sich benachteiligt fühlte, war nicht nur die schöne Königstochter, sondern der ganze Hofstaat in tiefen hundertjährigen Schlaf versunken.

Viele Eltern, aus der Sicht des Kindes Könige, wünschen sich bewußt sehnlichst ein Kind, auf der tieferen unbewußten Ebene fürchten wegen vielfältigen Bedrohungen sie es, sodaß sie in ihrer Ambivalenz keins bekommen. Ich hatte einmal eine Patientin, die mit ihrem Partner sich ein Kind wünschte. Dann tauchte das Bild „ewige Fürsorge und Aufopferung“ in ihr auf, und sie trennte sich sofort von dem Partner und heiratete einen sterilisierten Mann. Als den heutigen Frosch könnte man die Versprechungen der modernen Medizintechniken ansehen. Die böse Frau sehe ich als Symbol der bösen Mutter, zum Schutz der guten Mutter auf die Stiefmutter verschoben, die aufgrund eigener vergangener Benachteiligungen in ihrem Leben ihrer Tochter auch kein glücklicheres Schicksal gönnt. Konkurrenz von Seiten der Mutter zur Tochter und destruktiver Neid, d. h. Mißgunst, sind die Themen. – Ich unterscheide bei Neid zwischen konstruktiven und destruktivem Neid. Wenn jemand etwas positives hat, das ich auch gerne hätte, das ich aber nicht erringen oder darauf verzichten kann, entsteht destruktiver Neid bzw. Mißgunst mit der Folge der Zerstörung des Inhaltes, der positiven Eigenschaften oder der ganzen Person. – Sie sieht in ihrer Tochter die Jugend, Attraktivität und Zukunftschancen, während sie in sich selbst Alter und Verfall als Zukunft erlebt. Dies ist für sie wie auch im heutigen Alltag so unerträglich, daß sie die Zukunft der Tochter zerstören muß.

Eine sich im Haushalt plagende Mutter wird kaum ihrer Tochter Muße und Genuß gönnen, etwa, wenn diese genüßlich Daumen lutscht, friedlich spielt, liest oder sich laut vergnügt. Ihr wird sicherlich etwas einfallen, etwa, daß noch die Hausaufgaben gemacht werden müssen, dies und jenes aufzuräumen ist oder die Nachbarn gestört werden. Vor Überschwang wird sie mit Sprüchen warnen wie „Übermut tut selten gut, das dicke Ende kommt noch oder Bäume wachsen nicht in den Himmel“ und das dicke Ende kommt wie das Amen in der Kirche, sodaß es zurecht gefürchtet wird. Dadurch werden Genuß und Lebendigkeit des Kindes zerstört. Später ist der Mutter kein Mann recht, sodaß es schon ein Prinz sein muß, der ihr dann noch weniger recht sein kann, da die Tochter etwas hat, was sie nicht hat.

Der eventuelle Neid der Tochter auf die Mutter wird nicht erzählt, da er früher und im heutigen Alltag eine wesentlich geringere Rolle spielt, höchstens als Reaktion der entwerteten Tochter auf eine strahlende Mutter. Dornröschen sind allbekannt. Das Verbergen hinter dicken Mauern mit nach außen gerichteten Dornen ist eine Reaktion und Folge ihrer inneren Zerrissenheit zwischen ihren Wünschen, ihrer Sehnsucht und ihren von der Mutter übernommenen Ängsten etwa in heutigen Aussagen „Männer wollen nur das Eine! Die bösen Männer, …mißbrauchen uns Frauen als Sexualobjekt!“ Sie schützen sich durch Unattraktivität, Kleidung, Fettsucht oder Karrierefleiß. – Gerade die Übergewichtigen drehen sich in einem Teufelskreis. Sie fühlen sich aufgrund ihres Aussehens unattraktiv, ungeliebt und setzen Kummerspeck an. Meist nehmen sie eine kämpferische kontraphobische Gegenhaltung ein „wer mich nicht liebt, soll es lassen!“ oder beklagen sich über den Maßstab des Äußeren und fehlende Achtung der inneren Werte. Und wenn einer sie doch liebt, schließlich sind die Geschmäcker verschieden, glauben sie, der müsse pervers sein. Und einen Perversen wollen sie auch nicht. – Wie im Märchen erzählt, tritt das Schicksal durch einen Spruch von außen als Verdammnis ein. Der Spruch, besser heute die Sprüche,  pflanzt sich als Fluch dermaßen in das menschliche Gehirn ein, daß der Mensch nicht anders kann und sein Leben bestimmt wird. Im Märchen währt die lange Zeit 100 Jahre, bis Dornröschen sich öffnen kann oder es gelingt, zu ihr durchzudringen, hoffnungsvoller als bei vielen Frauen, die sich überhaupt nicht öffnen können. Und wer hat schon so lange Geduld. Schon weit vorher wird er den Anderen oder sich selbst zerstören. Neid gehört zu allen Traumatisierten, da in der Selbstentwertung die Aufwertung des Anderen steckt. Sicher ergeht es traumatisierten Männern nicht anders. Vielleicht weiß ein Leser ein dazu passendes Märchen.

Darüber hinaus wird nicht nur von der schlafenden Einzelperson, sondern von einem schlafenden Umfeld, der Familie erzählt. Das Schicksal der Traumatisierung bedeutet nicht nur für das Mädchen, sondern auch für das Umfeld, die Familie, durch die Fixierung auf das Trauma und die erwarteten Bedrohungen und dessen Verhinderung ein gemeinsames Schicksal, einen Verlust sämtlicher Lebendigkeit, Spontaneität und Freiheit – einem todesähnlichen Schlaf, eingesperrt hinter dicken Mauern und einer Dornenhecke. Diese verbindet ein gemeinsamer Geist, der über die Generationen weiter gegeben wird, sodaß etwa Ängste in Familien (laut H.E. Richter die „Festungsfamilie“) wie bei der (Sozial)Phobie im Rückzug hinter dicke Mauern oder bei Depressionen bei gemeinsamer Fixierung auf ein hoffnungsloses Schicksal mit den körperlichen Begleiterscheinungen verbreitet sind. Wegen dieses gemeinsamen Geistes und gemeinsamen Schicksals treten in traumatisierten Familien schwere Krankheiten, manchmal spezielle wie Krebs, Depressionen, Ängste und Psychosen, gehäuft auf. Für Organmediziner, die Geist und Körper trennen, ist diese Tatsache der Beweis der Anlage in den Genen oder eine anlagemäßige Transmitterstoffwechselstörung. So wie der Fluch für die Tochter von außen durch die Mutter kam, kann die Erlösung auch nur von außen durch eine starke Kraft, den Prinzen, kommen. Deswegen sind Traumatisierte in ihrer sensiblen Kränkbarkeit, wobei sie überall ihre Entwertungen heraus lesen, auf günstige erlösende Umweltbedingungen angewiesen. Der Erlösungsmythos findet sich in vielen deutschen Märchen und Religionen, während in griechischen Mythen mehr die Teufelskreisläufe dargestellt werden.

Schneewittchen

Es war einmal mitten im Winter, die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Die Königin träumte “ hätte ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz“.

In diesem Märchen, heute häufig in den Patchworkfamilien, ist die Mutter für das Kind früh gestorben und eine in ihrem Selbstbild tief verletzte, traumatisierte Stiefmutter hat die Mutterrolle übernommen. Die traumatisch entwertete Stiefmutter baut innerlich ein Größenbild auf mit dem Gegenanspruch, die Schönste im ganzen Land zu sein, gegenüber dem sie nur minderwertig sein kann, eine erneuter traumatisierender Kreislauf. In ihrer narzißtischen Selbstbespiegelung „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land!“ muß sie sich ihre Aufwertung bestätigen und sieht die drohende Gefahr nicht in sich selbst, sondern projiziert in der jüngeren Tochter. In ihrem Selbstbild bedrohte Menschen besetzen andere immer mit ihrem für sich ersehnten Gegenbild, diese sind die schönsten, tollen, glücklichen, zumal, wenn diese viel jünger und eine erfolgsversprechende Zukunft verheißen. In sich selbst sehen sie Alter und Zerfall. Dies schafft mörderische Rivalität und Neid. Zum inneren narzißtischen Ausgleich delegieren bzw. projizieren sie ihr negatives Selbstbild in die Tochter und machen diese bis zum Seelenmord fertig. Beispielsweise alle lesbischen Frauen, die ich kennen gelernt habe, wurden von ihren Müttern schwer entwertet. Eine lesbische Patientin berichtete, ihre Mutter war der stolze Schwan und sie das häßliche Entlein, als das sie im weiteren Leben nach außen deutlich sichtbar lebte.

Nach 2 erfolglosen Mordversuchen als Reaktion auf die tödliche narzißtische Kränkung – gerettet durch ein hilfreiches Umfeld in Gestalt der 7 Zwerge, klein und schwach, die geringen Hilfsmöglichkeiten bei schwer Traumatisierten symbolisierend – schien der 3. durch einen vergifteten Apfel – der vergiftete Apfel als Symbol des Tödlichen im Genußvollen, ähnlich wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte –  gelungen. Die Errettung konnte nur durch Zufall, das Stolpern der Sargträger, und eine männliche, starke Person, dem Prinzen und dessen Liebe erfolgen. Die Liebe dient als Ausgleich und Rettung sämtlicher Bedrohungen. Noch heute gilt der Vater, oft durchaus in der Realität, als der Hoffnungsträger, der aus einer verstrickenden Mutterbeziehung als Gegengewicht herausführen und zu einem besseren Selbstbild führen kann. Sind sich Vater und Mutter zu Lasten des Bösen im Kind zu sehr einig oder streiten sie sich ohne Einigung uferlos, in beiden Fällen fühlt sich dieses schuldig und nimmt die Entwertung in sein Selbstbild auf, ein verhängnisvolles Schicksal.

Aschenputtel

Einem reichen Mann wurde seine Frau krank und starb. Ihr einziges Töchterchen war darüber sehr traurig. Er nahm eine andere Frau, die 2 Töchter mitbrachte… Im Cinderella-Syndrom wird das Thema des Neides der Mutter auf die Tochter wiederum auf die Beziehung von Stiefmutter zur Stieftochter verschoben, um die gute Mutter zu erhalten. Die Stieftochter wird entwertet und zur Grauen Maus verdammt, nimmt ihr Schicksal an, weil sie trotz aller erlebten Ungerechtigkeiten dasselbe glaubt wie ihre Mutter und um die Liebe der Mutter ringt, indem sie sich deren Anforderungen unterwirft. Gleichzeitig wird ihr die Erhöhung und Größe im Traum vom Prinzen vorgespiegelt – biblisch „wer sich erniedrigt, wird erhöht werden“. In den eigenen Töchtern läßt die Mutter stellvertretend ihr eigenes schönes Leben zu und bringt ihre Entwertungen in der Stieftochter unter. Traumatisierte Mütter geraten gegenüber ihren Töchtern in einen Zwiespalt, einerseits wünschen sie für sie ein besseres Leben als Teil ihrer selbst oder Selbstobjekt, andererseits sehen sie mißgünstig in ihnen die Bedrohung und gönnen ihnen dieses nicht. Der ideale Ausweg ist in Aschenputtel die Stieftochter und eine Aufspaltung zwischen den Töchtern in gut und böse, schönes und jämmerliches Leben. Gleichzeitig steckt für den nicht einbezogenen Außenbetrachter eine Umkehr der Bewertung in der lieben, demutsvollen Stieftochter und den hochmütigen Töchtern. Im Alltag findet diese Spaltung oft innerhalb der Geschwister statt, sodaß der Eine der Gute, Erfolgreiche und der Andere der Böse und Versager ist und nach diesen Bildern lebt, getreu nach dem Spruch „ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“-  das wäre schön, meist wird nicht ungeniert gelebt, sondern weiterhin um den guten Ruf gekämpft -, und der Erfolgreiche ewig fürchten und darum kämpfen muß, daß es ihm ähnlich ergeht wie seinem Geschwister.

Dieses irdische Jammertal verlangt natürlich nach einer Erlösung von außen, wiederum eine starke männliche Hand und die Liebe. Innerhalb der Familie ist eine Lösung nicht möglich, da die Mutter aus narzißtischen existentiellen Gründen ihren Neid und ihre Rachsucht und die Tochter, identifiziert mit bzw. infiziert von der Mutter, ihren Glauben nicht aufgeben können. Der Prinz stellt den Dritten, den Vater, dar, der ein Gegengewicht gegenüber der traumatischen Kind-Mutter-Dyade – in den geschilderten deutschen Märchen wird die Mutter-Sohn-Verstrickung nicht, dafür aber in der griechischen Sage und der Bibel erzählt –  darstellt  und somit aus dieser Verstrickung und den Zwiespalten heraus und durch andere Vorbilder zu einem glücklichen, selbstbestimmten Leben führen kann.

Und wenn sie nicht gestorben wären, lebten sie noch heute…, wohlweislich den Fortgang der in der traumatisierten Beziehung zwangsläufig unglücklichen Ehesituation vermeidend. Schließlich handelt es sich um Märchen mit einem glücklichen Ausgang, sodaß jeder hoffen und vom Prinzen und der Liebe träumen kann. Denn nach der Verliebtheitsphase fangen in der Partnerbeziehung durch unterschiedliche Ansprüche, Selbstverständlichkeiten und darüber Sprachlosigkeit die Probleme an. Eine schwer narzißtisch verletzte und sich eines glücklichen Lebens versagende Ehefrau – sie ist der Liebe in ihren Augen nicht wert –  wird immer in den Krümeln suchen, wodurch sie zweifeln kann, ein Thema der Eifersuchtsdramen, kann auch durch den liebevollsten Mann, der ihr alle Wünsche erfüllt, nicht befriedigt werden, umgekehrt natürlich ebenfalls. Dies Thema führt etwa zu dem Märchen „Der Fischer und seine Frau“.

Ähnliche Zusammenhänge mit anderen Schwerpunkten werden in anderen deutschen Märchen wie „Frau Holle“, die „Sterntaler“ oder „Hänsel und Gretel geschildert. Richtungsweisend sind die Siegfriedsage oder bei Achill die Achillesferse. Der traumatisierte Mensch mag sich noch so sehr schützen, seine Tragik ist, irgendwo, an einer kleinen Stelle trifft es ihn doch, schlägt das Schicksal zu. Ich betrachte diese Darstellungen als eine Einführung für die Übersetzung von Märchen auf den Alltag des traumatisierten Menschen. Mir selbst fallen hier beim Schreiben immer neue Aspekte ein. Ich nehme an, dem mitdenkendem Leser mit eigenen Erfahrungen ebenfalls.

Anmerkung:

Der Beitrag von Bernd Holsteige wurde im WELTEXPRESS erstveröffentlicht.